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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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bewiesen wurde, hat diese Behandlungsmethode doch eine ziemlich große Anhängerschaft. Man versteht, wieso mein Vater ihr zuneigte. Anstatt sich mit einer niederschmetternden emotionellen Tatsache herumzuplagen, konnte er damit die Krankheit als körperlichen Makel betrachten, als etwas, das sich mit den gleichen Mitteln heilen ließ wie eine Erkältung. Die Krankheit wurde somit zu etwas, das von außen kam, eine Art Bazillus, den man mit äußerlichen Mitteln ausrotten konnte. In seinen Augen war meine Schwester fähig, von alldem seltsam unberührt zu bleiben. Sie war lediglich der Schauplatz , auf dem die Schlacht stattfinden würde, und das bedeutete, dass jedwedes Ereignis sie im Grunde gar nicht berührte.
    Er versuchte monatelang, sie zu überreden, mit dieser Vitaminbehandlung anzufangen – wobei er sogar selbst die Pillen schluckte, um ihr zu beweisen, dass man sie nicht vergiften wolle –, doch nachdem sie schließlich eingewilligt hatte, nahm sie die Pillen höchstens ein oder zwei Wochen lang. Die Vitamine waren teuer, aber vor diesen Ausgaben scheute er nicht zurück. Indessen weigerte er sich wütend, andere Behandlungsmethoden zu finanzieren. Er glaubte einfach nicht daran, dass ihr Schicksal einen Fremden interessieren könnte. Psychiater waren allesamt Scharlatane, die bloß ihre Patienten ausnehmen und schicke Wagen fahren wollten. Er weigerte sich, die Rechnungen zu bezahlen, so dass sie auf die schäbigsten öffentlichen Einrichtungen angewiesen war. Sie war bettelarm, ohne eigenes Einkommen, aber er schickte ihr so gut wie nichts.
    Er war jedoch mehr als bereit, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Obwohl es weder ihr noch ihm nützen konnte, wollte er, dass sie in seinem Haus wohnte, damit er die Verantwortung für sie übernehmen konnte. Seinen Gefühlen konnte er immerhin trauen, und er wusste, dass er sich um sie sorgte. Doch als sie dann kam (für ein paar Monate, im Anschluss an einen ihrer Klinikaufenthalte), ging er keineswegs von seiner alltäglichen Routine ab, um sich ihr zu widmen – sondern verbrachte weiterhin die meiste Zeit unterwegs und ließ sie in dem riesigen Haus allein umgehen wie ein Gespenst.
    Er war nachlässig und stur. Und dennoch, unter dieser Oberfläche hat er gelitten, das weiß ich. Wenn er und ich am Telefon über meine Schwester sprachen, hörte ich manchmal ganz leicht seine Stimme brechen, wie wenn er ein Schluchzen zu unterdrücken versuchte. Im Gegensatz zu allem anderen, was ihm zustieß, bewegte ihn die Krankheit meiner Schwester schließlich doch – allerdings so, dass er sich vollkommen hilflos vorkam. Für Eltern gibt es keinen größeren Kummer als diese Hilflosigkeit. Man muss sie akzeptieren, auch wenn man es nicht kann. Und je mehr man sie akzeptiert, desto größer wird die Verzweiflung.
    Seine Verzweiflung wurde sehr groß.

    Niedergeschlagen, mit nichts im Sinn als dem Gefühl, allmählich den Kontakt zu dem zu verlieren, was ich hier schreibe, streifte ich heute durchs Haus und stieß dabei zufällig auf die folgenden Sätze in einem Brief van Goghs: «Wie jeder andere habe ich das Bedürfnis nach Familie und Freundschaft, nach Liebe und freundlichem Umgang. Ich bin nicht aus Stein oder Eisen, wie ein Hydrant oder ein Lampenpfahl.»
    Vielleicht ist es das, was wirklich zählt: entgegen aller Gewissheit zum Kern des menschlichen Gefühls vordringen.

    Diese winzigen Bilder: nicht zu korrigieren, eingeschlossen im Sumpf des Gedächtnisses, weder begraben noch vollständig wiederzuerlangen. Und doch jedes für sich eine flüchtige Wiederauferstehung, ein Augenblick, der ansonsten verloren wäre. Sein Gang, zum Beispiel, seltsam ausgeglichen, auf den Ballen hüpfend, als wollte er sich blind ins Unbekannte stürzen. Oder wie er sich beim Essen mit straffen Schultern über den Tisch beugte, wie er das Essen stets nur konsumierte, nie genoss. Oder die Gerüche, die von den Autos ausgingen, die er zur Arbeit benutzte: Benzindämpfe, austropfendes Öl, Auspuffgase; das Durcheinander kalter metallener Werkzeuge; das ständige Rappeln, wenn der Wagen fuhr. Eine Erinnerung an den Tag, an dem ich mit ihm durchs Zentrum von Newark fuhr; ich kann höchstens sechs gewesen sein. Plötzlich trat er hart auf die Bremse, und der Ruck schleuderte mich mit dem Kopf ans Armaturenbrett: der jähe Schwarm von Schwarzen, die sich um den Wagen drängten, um zu sehen, ob mir was passiert sei; besonders die Frau, die mir durch das offene Fenster eine Tüte mit
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