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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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Vanilleeis hinhielt, und wie ich sagte: «Nein, vielen Dank», sehr höflich, viel zu benommen, als dass ich wissen konnte, was ich wirklich wollte. Oder ein anderer Tag in einem anderen Auto, einige Jahre später, wie mein Vater aus dem Fenster spuckte und dann erst merkte, dass das Fenster noch hochgekurbelt war, und meine grenzenlose, unsinnige Freude beim Anblick des Speichels, der an dem Glas heruntertroff. Und – ich war noch immer ein kleiner Junge – wie er mich manchmal in jüdische Restaurants mitnahm, in Stadtvierteln, die ich noch nie gesehen hatte; finstere Gaststätten voller alter Leute, jeder Tisch mit einer blauen Seltersflasche geschmückt, und wie mir da jedes Mal schlecht wurde, ich mein Essen unberührt stehenließ und mich damit zufriedengab, ihm zuzusehen, wie er Borschtsch, Piroggen und Kochfleisch mit Meerrettich in sich hineinschlang. Ich, der als amerikanischer Junge erzogen wurde, der von seinen Vorfahren weniger wusste als über Hopalong Cassidys Hut. Oder – da muss ich zwölf oder dreizehn gewesen sein – wie ich mit ein paar Freunden unbedingt irgendwo hingehen wollte und ihn deshalb bei der Arbeit anrief und um Erlaubnis bat, und wie er ratlos, um die richtigen Worte verlegen, zu mir sagte: «Ihr seid doch bloß ein Haufen Dreikäsehochs», und wie meine Freunde und ich (einer von ihnen ist inzwischen an einer Überdosis Heroin gestorben) noch Jahre später diese Worte wie etwas Folkloristisches, wie einen nostalgischen Witz wiederholten.

    Die Größe seiner Hände. Die Schwielen daran.
    Die Haut von der heißen Schokolade löffeln.
    Tee mit Zitrone.
    Die schwarzen Hornbrillen, die überall im Haus herumlagen: auf Anrichten, auf Tischen, auf dem Rand des Waschbeckens im Badezimmer – immer aufgeklappt, lagen sie dort wie merkwürdige, unbekannte Tiere.
    Ihm beim Tennisspielen zusehen.
    Wie seine Knie beim Gehen manchmal einknickten.
    Sein Gesicht.
    Seine Ähnlichkeit mit Abraham Lincoln, und wie die Leute dauernd ihre Bemerkungen darüber machten.
    Seine Furchtlosigkeit vor Hunden.
    Sein Gesicht. Und noch einmal, sein Gesicht.
    Tropenfische.

    Oft wirkte er unkonzentriert, schien zu vergessen, wo er war, als wäre ihm das Gefühl seiner Kontinuität verlorengegangen. Das führte häufig zu Missgeschicken: Wenn er einen Hammer benutzte, schlug er sich auf den Daumennagel; beim Autofahren gab es zahlreiche kleinere Unfälle.
    Seine Geistesabwesenheit als Fahrer: Manchmal ging es so weit, dass es zum Fürchten war. Ich habe immer gedacht, er würde einmal in einem Auto umkommen.
    Im Übrigen verfügte er über eine so gute Gesundheit, dass er unverwundbar schien, als könnten ihm die körperlichen Leiden, die uns andere befallen, nichts anhaben. Als könnte ihm überhaupt nichts jemals etwas anhaben.

    Seine Art zu sprechen: als unternähme er eine große Anstrengung, sich aus seiner Einsamkeit zu erheben, als ob seine Stimme eingerostet wäre, das Sprechen verlernt hätte. Es gab immer viele Ähs und Hms, und oft räusperte er sich und schien mitten im Satz steckenzubleiben. Man hatte ganz entschieden das Gefühl, dass ihm unbehaglich zumute war.
    Ebenso amüsierte es mich als Kind immer wieder, ihm zuzusehen, wenn er etwas unterschrieb. Er konnte nicht einfach den Stift aufs Papier setzen und seinen Namen schreiben. Als wollte er den Augenblick der Wahrheit unbewusst hinausschieben, begann er stets mit einem leichten Schwenk, mit einer kreisenden Bewegung ein paar Zentimeter über dem Papier, wie eine Fliege, die in der Luft herumsummt und ihren Landepunkt einkreist, bevor er dann zur Sache kam. So ähnlich, wie Art Carneys Norton in The Honeymooners seinen Namen zu schreiben pflegte.
    Sogar seine Aussprache war ein wenig seltsam. «Äauf», zum Beispiel, statt «auf», als hätte der Schwenk seiner Hand eine Entsprechung in seiner Stimme gehabt. Sie besaß etwas Melodisches, Ätherisches. Wann immer er ans Telefon ging, meldete er sich mit einem beschwingten «Hallooo». Es klang eher gewinnend als komisch. Er wirkte dadurch ein bisschen einfältig, oder weltfremd – aber nicht sehr. Nur ein wenig.
    Unabänderliche Marotten.

    Wenn er gelegentlich in eine seiner verrückten, geladenen Stimmungen geriet, brachte er bizarre Ansichten vor, ohne sie eigentlich ernst zu nehmen, doch spielte er gern den Advokaten des Teufels, um die Dinge in Schwung zu halten. Andere Leute aufzuziehen, versetzte ihn in heitere Stimmung, und wenn er zu jemandem etwas besonders Hirnverbranntes
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