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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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das tief im Innern der Anden begraben lag.

    Im Hinterkopf: ein Verlangen, etwas Außerordentliches zu tun, ihn mit einer Tat von heldenhaften Ausmaßen zu beeindrucken. Je distanzierter er sich gab, desto höher steckte ich meine Ziele. Doch so hartnäckig und idealistisch der Wille eines kleinen Jungen auch sein mag, er ist doch auch auf absurde Weise praktisch ausgerichtet. Ich war gerade zehn Jahre alt, und es gab für mich weder ein Kind aus einem brennenden Gebäude noch Matrosen aus Seenot zu retten. Andererseits war ich ein guter Baseballspieler, der Star meiner Little-League-Mannschaft, und obwohl mein Vater sich nichts aus Baseball machte, glaubte ich, dass er mich, wenn er mich nur einmal spielen sähe, in einem neuen Licht betrachten würde.
    Endlich kam er einmal. Die Eltern meiner Mutter waren gerade zu Besuch bei uns, und mein Großvater, ein großer Baseballfan, nahm ihn mit. Es war ein spezielles Spiel zum Memorial Day, und alle Sitzplätze waren besetzt. Wenn ich je etwas Außergewöhnliches tun wollte, dann war jetzt der Augenblick dafür gekommen. Ich kann mich erinnern, wie ich die beiden auf der Holztribüne erblickte, mein Vater im weißen Hemd ohne Krawatte, mein Großvater mit einem weißen Taschentuch auf dem kahlen Kopf, um sich vor der Sonne zu schützen – die ganze Szene scheint mir jetzt in blendendweißes Licht getaucht.
    Ich brauche wohl kaum zu sagen, dass ich alles verpfuscht habe. Ich erzielte keinen einzigen Schlag, verlor auf dem Platz meine Selbstsicherheit, hätte nicht nervöser sein können. Von den Hunderten von Spielen, die ich in meiner Kindheit gemacht habe, war dies das schlechteste.
    Als ich danach mit meinem Vater zum Auto ging, sagte er mir, ich hätte ein hübsches Spiel geliefert. Nein, das ist nicht wahr, sagte ich, es war schrecklich. Na, du hast dein Bestes getan, antwortete er. Es kann dir nicht immer alles gelingen.
    Nicht dass er mich aufzumuntern versuchte. Auch unfreundlich wollte er nicht sein. Eher sagte er ganz mechanisch einfach das, was man bei solchen Gelegenheiten so sagt. Es waren die richtigen Worte, aber ohne jedes Gefühl ausgesprochen; eine Übung in Höflichkeit, vorgetragen mit dem gleichen geistesabwesenden Tonfall, mit dem er zwanzig Jahre später sagte: «Ein schönes Baby. Na dann viel Glück.» Ich sah förmlich, dass er mit den Gedanken woanders war.
    Für sich allein betrachtet ist das belanglos. Wichtig aber ist Folgendes: Mir wurde klar, dass seine Reaktion genau dieselbe gewesen wäre, wenn ich alles vollbracht hätte, was ich mir erhofft hatte. Es interessierte ihn im Grunde gar nicht, ob ich Erfolg hatte oder versagte. Für ihn wurde ich nicht durch das definiert, was ich tat, sondern durch das, was ich war, und das bedeutete, dass seine Wahrnehmung von mir sich niemals ändern würde, dass unser Verhältnis unbeweglich fixiert war, dass eine Mauer zwischen uns stand. Mehr noch, ich erkannte, dass nichts von alledem mit mir zu tun hatte. Es hatte nur mit ihm zu tun. Wie alles andere in seinem Leben sah er mich nur durch die Nebel seiner Einsamkeit, wie weit von sich entfernt. Die Welt ist für ihn wohl ein ferner Ort gewesen, ein Ort, den er nie richtig hat betreten können, und irgendwo in dieser Ferne, unter all den Schatten, die an ihm vorüberhuschten, war ich geboren worden, sein Sohn geworden und aufgewachsen, aufgetaucht und wieder verschwunden in einem dämmrigen Winkel seines Bewusstseins, wie die anderen Schatten auch.

    Mit seiner Tochter, die geboren wurde, als ich dreieinhalb war, hatte er es etwas leichter. Doch am Ende war es noch unendlich komplizierter.
    Sie war ein schönes Kind. Ungewöhnlich zart gebaut, mit großen braunen Augen, die beim kleinsten Anlass in Tränen ausbrachen. Sie verbrachte sehr viel Zeit allein, eine winzige Gestalt, die ein imaginäres Land voller Elfen und Feen durchwanderte, auf Zehenspitzen in bebänderten Ballerinakleidchen herumtanzte und dazu gerade laut genug sang, dass nur sie sich hören konnte. Sie war eine Ophelia in Kleinformat, schon verurteilt, wie es schien, zu einem Leben ständiger innerer Kämpfe. Sie hatte wenig Freunde, kam in der Schule kaum mit und wurde bereits in sehr jungen Jahren von Selbstzweifeln geplagt, die ihr die alltäglichen Aufgaben zu Alpträumen von Angst und Versagen machten. Sie hatte Wutanfälle, schreckliche Weinkrämpfe, war ständig aufgewühlt. Nichts schien über längere Zeit gutzugehen.
    Da sie empfänglicher für die Nuancen der
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