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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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unglücklichen Ehe um uns war als ich, wurde ihre Unsicherheit erdrückend und lähmend. Mindestens einmal am Tag fragte sie unsere Mutter, ob sie «Daddy liebhabe». Die Antwort war immer dieselbe: Natürlich hab ich ihn lieb.
    Das kann keine sehr überzeugende Lüge gewesen sein. Denn sonst wäre am nächsten Tag gewiss nicht das Bedürfnis entstanden, die Frage aufs neue zu stellen.

    Man glaubte ihre Hilflosigkeit geradezu riechen zu können und empfand spontan das Bedürfnis, sie zu beschützen, sie vor den Attacken der Welt in Schutz zu nehmen. Mein Vater, wie alle anderen, verhätschelte sie. Je lauter sie nach Zärtlichkeit zu schreien schien, desto lieber fand er sich bereit, sie ihr zu geben. Sie hatte zum Beispiel längst das Gehen gelernt, aber er bestand weiterhin darauf, sie die Treppe hinunterzutragen. Kein Zweifel, dass er dies aus Liebe tat, dass er es mit Vergnügen tat, weil sie sein kleiner Engel war. Doch die heimliche Botschaft all dieser Zärtlichkeiten war, dass sie nie fähig sein würde, irgend etwas alleine zu machen. Sie war für ihn kein Mensch, sondern ein Engel, und da sie nie gezwungen war, als selbständiges Wesen zu handeln, konnte sie auch nie eins werden.
    Meine Mutter jedoch erkannte, was sich da abspielte. Als meine Schwester fünf Jahre alt war, ging sie mit ihr zu einem Beratungsgespräch bei einem Kinderpsychiater, und am Ende empfahl der Arzt, eine Therapie einzuleiten. Als meine Mutter meinem Vater abends vom Ergebnis dieses Arztbesuchs erzählte, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Meine Tochter, niemals, und so weiter. Die Vorstellung, dass seine Tochter psychiatrische Hilfe benötigte, war für ihn dasselbe, als wenn man ihm gesagt hätte, sie habe Lepra. Er wollte das nicht akzeptieren. Er wollte nicht einmal darüber sprechen.
    Genau darauf will ich hinaus. Seiner Weigerung, in sich selbst hineinzusehen, entsprach eine nicht minder sture Weigerung, die Welt ins Auge zu fassen und wenigstens den unwiderlegbaren Beweis zu akzeptieren, den sie ihm unter die Nase hielt. Sein Leben lang starrte er immer wieder irgendeiner Sache mitten ins Gesicht, nickte, wandte sich dann ab und sagte, sie sei nicht da. Das machte ein Gespräch mit ihm so gut wie unmöglich. Kaum war es einem gelungen, so etwas wie eine gemeinsame Basis mit ihm herzustellen, nahm er auch schon seine Schaufel und grub sie einem unter den Füßen weg.

    Noch Jahre später, als meine Schwester eine Serie von erschöpfenden Nervenzusammenbrüchen erlitt, beharrte mein Vater darauf, dass alles in Ordnung sei. Als wäre er von seiner Biologie her nicht in der Lage gewesen, ihren Zustand zu erkennen.
    R.D. Laing beschreibt in einem seiner Bücher den Vater eines katatonischen Mädchens: Jedes Mal wenn er sie im Krankenhaus besuchte, packte er sie an den Schultern, schüttelte sie aufs heftigste und sagte ihr, sie solle sich «am Riemen reißen». Gewiss, mein Vater hat meine Schwester nicht gepackt, doch im Grunde war seine Einstellung die gleiche. Was sie braucht, pflegte er zu sagen, ist ein Job, damit sie mit sich ins Reine kommt, sie muss anfangen, in der Wirklichkeit zu leben. Das stimmte natürlich. Aber genau das konnte sie ja eben nicht. Sie ist einfach zu empfindlich, sagte er, sie muss ihre Schüchternheit überwinden. Indem er das Problem zu einer Charakterschwäche domestizierte, konnte er auch weiterhin glauben, dass alles mit ihr in Ordnung sei. Das war nicht so sehr Blindheit als vielmehr ein Mangel an Phantasie. Wann hört ein Haus auf, ein Haus zu sein? Wenn das Dach abgenommen wird? Wenn die Fenster entfernt werden? Wenn die Mauern niedergerissen werden? Ab wann ist es nur noch ein Schutthaufen? Sie ist eben anders, sagte er, sonst ist alles mit ihr in Ordnung. Und dann fallen eines Tages die Mauern des Hauses ein. Wenn aber die Tür noch steht, braucht man bloß hindurchzugehen, und man ist wieder drin. Ist doch schön, unter den Sternen zu schlafen. Macht nichts, wenn es regnet. Kann ja nicht lange dauern.

    Die Situation wurde jedoch immer schlimmer, und allmählich blieb ihm nichts anderes mehr übrig, als sie nach und nach zu akzeptieren. Doch dieser Vorgang verlief in jeder Phase unorthodox und nahm exzentrische, nachgerade selbstzerstörerische Formen an. Zum Beispiel kam er zu der Überzeugung, dass ihr nur eins helfen könnte, nämlich eine Intensivbehandlung mit großen Mengen von Vitaminen. Dies war die chemische Methode, einer Geisteskrankheit zu begegnen. Wenn ihre Wirksamkeit auch nie
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