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Die Erfindung der Einsamkeit

Die Erfindung der Einsamkeit

Titel: Die Erfindung der Einsamkeit
Autoren: Paul Auster
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musste schier blind gewesen sein. Ich sah die Fingerspitzen eines Mannes, der einen meiner Onkel umfasst hielt; ich sah ganz deutlich, dass ein anderer meiner Onkel nicht, wie ich zuerst geglaubt hatte, seine Hand auf dem Rücken seines Bruders liegen hatte, sondern auf der Lehne eines Stuhls, der nicht zu sehen war. Und dann ging mir auf, was an diesem Bild so seltsam war: Man hatte meinen Großvater herausgerissen. Das Bild wirkte so verzerrt, weil ein Teil daraus entfernt worden war. Mein Großvater hatte auf einem Stuhl neben seiner Frau gesessen, einer seiner Söhne hatte zwischen seinen Knien gestanden – aber er selbst war nicht mehr da. Nur noch seine Fingerspitzen. Als versuchte er aus irgendeinem tiefen Loch in der Zeit wieder in das Bild zurückzukriechen, als wäre er in eine andere Dimension verbannt worden.
    Das Ganze ließ mich erschaudern.

    Ich habe die Geschichte vom Tod meines Großvaters vor einiger Zeit erfahren. Ohne einen außerordentlichen Zufall wäre sie nie bekanntgeworden.
    1970 flog eine meiner Kusinen nach Europa, um dort mit ihrem Mann Urlaub zu machen. Im Flugzeug saß ein alter Mann neben ihr, und wie es häufig vorkommt, fingen die beiden zum Zeitvertreib eine Unterhaltung an. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann in Kenosha, Wisconsin, lebte. Amüsiert über diesen Zufall, bemerkte meine Kusine, dass ihr Vater dort aufgewachsen sei. Neugierig fragte der Mann nach ihrem Familiennamen. Als sie ihm sagte: Auster, wurde er blass. Auster? Ihre Großmutter war doch nicht etwa so eine verrückte kleine Rothaarige? Doch, das war meine Großmutter, antwortete meine Kusine. Eine verrückte kleine Rothaarige.
    Und dann erzählte er ihr die Geschichte. Sie hatte sich vor über fünfzig Jahren abgespielt, aber die wichtigen Einzelheiten hatte er noch nicht vergessen.
    Als dieser Mann aus dem Urlaub zurück war, stöberte er die Zeitungsartikel über die Geschichte auf, ließ sie kopieren und schickte sie meiner Kusine zu. Mit folgendem Begleitbrief:
15. Juni 70
Sehr geehrte – und –:
Ich habe mich über Ihren Brief gefreut, und obwohl es erst so aussah, als könnte die Aufgabe kompliziert werden, ist mir eine richtige Glückssträhne zu Hilfe gekommen. – Fran und ich waren mit Fred Plons und seiner Frau zum Essen aus, und es stellte sich heraus, dass Freds Vater das Mietshaus an der Park Ave. von Ihrer Familie gekauft hatte. – Mr. Plons ist vielleicht drei Jahre jünger als ich, aber er meinte, der Fall habe ihn (damals) fasziniert, und er erinnerte sich noch an etliche Einzelheiten. – Er meinte, Ihr Großvater war der erste Mensch, der auf dem Jüdischen Friedhof hier in Kenosha beerdigt wurde. – (Vor 1919 hatten die Juden in Kenosha keinen eigenen Friedhof, sondern mussten ihre Lieben in Chicago oder Milwaukee beerdigen lassen.) Mit diesem Wissen hatte ich keine Mühe, die Grabstelle Ihres Großvaters zu finden. – Und ich konnte das genaue Datum rauskriegen. Alles andere steht auf den Kopien, die ich Ihnen mitschicke. –
Ich bitte nur darum, lassen Sie Ihren Vater nichts von dem erfahren, was ich Ihnen hier mitteile – er soll nicht noch mehr Kummer bekommen, als er bereits gelitten hat …
Ich hoffe, das bringt ein wenig Licht in die Handlungsweise Ihres Vaters während der letzten Jahre.

Herzlichste Grüße an Sie beide –
Ken & Fran
    Die Zeitungsartikel liegen auf meinem Schreibtisch. Jetzt, da es so weit ist, darüber zu schreiben, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass ich alles tue, um die Sache hinauszuschieben. Den ganzen Vormittag habe ich gezögert. Ich habe den Müll zur Mülltonne gebracht. Ich habe fast eine Stunde lang mit Daniel im Hof gespielt. Ich habe die Zeitung gelesen – komplett, bis hin zu den Ergebnissen der Baseball-Frühjahrstrainingsspiele. Selbst jetzt noch, während ich über meinen Widerwillen gegen das Schreiben schreibe, bin ich unerträglich ruhelos: Alle paar Worte springe ich von meinem Stuhl, gehe auf und ab, höre zu, wie der Wind die losen Regenrinnen ans Haus klappern lässt. Die kleinsten Kleinigkeiten können mich ablenken.
    Nicht dass ich mich vor der Wahrheit fürchte. Ich fürchte mich nicht einmal davor, sie auszusprechen. Meine Großmutter hat meinen Großvater ermordet. Genau sechzig Jahre bevor mein Vater starb, am 23. Januar 1919, hat seine Mutter in der Küche ihres Hauses an der Fremont Avenue in Kenosha, Wisconsin, seinen Vater erschossen. Die Tatsachen selbst beunruhigen mich nicht mehr, als man
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