Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)

Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)

Titel: Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
Autoren: Ben Aaronovitch
Vom Netzwerk:
 
    Es ist eine traurige Tatsache des modernen Lebens, dass man, wenn man lange genug fährt, früher oder später London hinter sich lassen muss. Wenn man die A12 nach Nordosten nimmt, landet man irgendwann in Colchester, der ersten römischen Hauptstadt Britanniens und ersten Stadt, die von dieser rothaarigen Kelten-Tusse aus Norfolk namens Boudicca niedergebrannt wurde. Das wusste ich, weil ich im Zuge meiner Lateinstudien die
Annalen
des Tacitus gelesen hatte. Der bringt überraschend viel Verständnis für die aufständischen Briten auf und übt vernichtende Kritik an den völlig unvorbereiteten römischen Generälen, die
mehr an ihre Bequemlichkeit denn an das Nützliche dachten
. Die klassisch gebildeten kinnlosen Schnösel, die in der britischen Armee das Sagen haben, scheinen daraus ihre Lehren gezogen zu haben   – heute sitzen in Colchester die härtesten Hunde im ganzen Militär, die Fallschirmjäger. Ich hatte mich als Polizeianwärter oft genug am Samstagabend mit besoffenen Soldaten auf dem Leicester Square herumgeschlagen, um jetzt schön auf der Umgehungsstraße zu bleiben und die Stadt weiträumig zu meiden.
    Hinter Colchester bog ich nach Süden ab und fand mitHilfe der GP S-Funktion meines Handys erfolgreich auf die B1029, die das keilförmige Trockengebiet zwischen dem River Colne und dem Flag Creek der Länge nach durchschneidet. An ihrem Ende liegt Brightlingsea, das sich laut Lesley an der Küste breitmacht wie ein Haufen Müll, der von der Flut an den Strand geschwemmt wurde. Also, ich fand es gar nicht so schlimm. In London hatte es geregnet, aber seit Colchester hatte sich der Himmel aufgeklart, und die gepflegten viktorianischen Reihenhäuser, die sich bis hinunter ans Wasser zogen, strahlten in der Sonne.
    Der Familiensitz der Mays war nicht schwer zu finden: ein pseudo-edwardianisches Klinker-Landhaus aus den Siebzigern, mit Hilfe von Kieselrauputz und alten Kutschenlaternen zu einem Idyll ungezügelter Spießigkeit herausgeputzt. Die Haustür wurde von einer von blauen Blüten überquellenden Blumenampel und einem Keramik-Hausnummernschild in Form einer Segelyacht flankiert. Ich hielt kurz inne und ließ den Blick über den Garten schweifen. Nicht weit von der verschnörkelten Vogeltränke hatten sich ein paar Gartenzwerge lässig in Pose gestellt. Ich holte tief Luft und klingelte.
    Sofort erhob sich drinnen vielstimmiges weibliches Geschrei. Durch das Buntglasfensterchen in der Tür sah ich am Ende des Flurs ein paar verschwommene Gestalten hin und her eilen. Jemand kreischte: »Es ist dein Freund!«, worauf ein
Psst
und eine halblaute Ermahnung von jemand anderem folgten. Dann kam ein weißer Schatten näher, bis er das Fenster völlig ausfüllte. Ich trat einen Schritt zurück. Die Tür öffnete sich. Es war Henry May, Lesleys Vater.
    Er war ziemlich groß, und das jahrelange Lastwagenfahren und Güterverladen hatten ihm breite Schultern und muskelbepackte Arme eingebracht. Die vielen Raststättenfrühstücke und die Abende am Stammtisch hatten um den Bauch herum einen nicht minder breiten Rettungsring hinterlassen. Er hatte ein kantiges Gesicht und die Stoppelfrisur eines Mannes, der kurzen Prozess mit seiner schwindenden Haarpracht gemacht hat. Seine Augen waren blau und hellwach. Die Augen hatte Lesley eindeutig von ihm geerbt.
    Dank seiner sechs Töchter hatte er es im elterlichen Strengblicken zu höchster Vollendung gebracht, und ich musste den Impuls unterdrücken, zu fragen, ob Lesley zum Spielen rauskommen dürfe.
    »Hallo, Peter«, sagte er.
    »Mr.   May«, sagte ich.
    Er machte keine Anstalten, den Türrahmen freizugeben oder mich hereinzubitten. »Lesley kommt sofort.«
    »Geht’s ihr gut?«, fragte ich. Es war eine dumme Frage, und ihr Dad vermied es, uns beide dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass er versuchte, sie zu beantworten. Jetzt hörte ich jemanden die Treppe herunterkommen und machte mich auf alles gefasst.
    Dr.   Walid hatte erklärt, dass Nasenbein, Oberkiefer, Unterkiefer und Kinn erheblichen Schaden genommen hatten. Die darunter liegenden Muskeln und Sehnen waren zwar größtenteils erhalten geblieben, aber es war den Chirurgen in der Uniklinik nicht gelungen, viel von der Haut darüber zu retten. Man hatte ihr vorläufig eine prothetische Konstruktion eingesetzt, damit sie atmen und schlucken konnte, und es bestand die Chance einer teilweisenGesichtstransplantation   – falls sich eine passende Spenderin fand. Da das, was von Lesleys Kiefer noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher