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Die Erben der Schwarzen Flagge

Die Erben der Schwarzen Flagge

Titel: Die Erben der Schwarzen Flagge
Autoren: Michael Peinkofer
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Augenblick wurde die Tür der Kutsche geöffnet, und ein hagerer Mann erschien, der nicht barfüßig ging und Lumpen trug wie die Sklaven, sondern polierte Schuhe mit goldenen Schnallen und Hosen aus feinstem Zwirn, darüber einen weiten, purpurfarbenen Mantel, der mit goldenen Knöpfen verziert war. Die Züge des Mannes waren blass gepudert und wurden von langem schwarzem Haar umrahmt, das in üppigen Locken auf seine Schultern fiel. Seine Nase war schmal, ebenso wie der mitleidlose Mund und die dunklen, kalt starrenden Augen. Ein spitzer Bart nach spanischer Mode zierte das hervorspringende Kinn.
    In den vergangenen zwölf Jahren hatte Nick gelernt, diese Züge zu verabscheuen, denn sie gehörten Carlos de Navarro, dem Conde von Maracaibo, der seine Kutsche hatte anhalten lassen, um sich am Bild der vor ihm knienden Sklaven zu weiden. Aber wie staunte Nick, als Navarro nicht der Einzige blieb, der der Kutsche entstieg! Dem Grafen folgte eine junge Frau, die an Schönheit und Anmut alles übertraf, was Nick in seinem ganzen Leben gesehen hatte.
    Sie trug ein rotes Kleid mit weißen Borten, das nach spanischer Art geschneidert war, dazu einen ebenso roten Schirm zum Schutz vor der karibischen Sonne. Ihr Teint war leicht gebräunt und nicht gepudert, ihr von blauschwarzem Haar umrahmtes Gesicht so makellos wie das einer Statue. Eine feine, keck geschwungene Nase erhob sich über einem herzförmigen Mund mit vollen, rosigen Lippen. Die hohen, leicht geröteten Wangen verliehen ihrer Erscheinung etwas Würdevolles, das vom ruhigen Blick ihrer braunen Augen noch unterstrichen wurde.
    Nick konnte nicht anders, als hingerissen zu sein von dieser Erscheinung, die ihm inmitten von Elend, Schmutz und Gestank wie ein engelsgleiches Wesen vorkam.
    »Nun?«, erkundigte sich Navarro, dessen harte Stimme die Männer trotz der schwülen Nachmittagshitze erschaudern ließ. »Wie gehen die Arbeiten voran?«
    »So rasch, wie es nur irgend möglich ist, Exzellenz«, versicherte der Blutegel und verbeugte sich tief. Das unbarmherzige Verhalten, das er den Sklaven gegenüber an den Tag legte, war beflissener Unterwürfigkeit gewichen.
    »Das will ich hoffen«, tönte es zurück. »Die San Salvador soll noch vor Einbruch der Dunkelheit auslaufen. Bis dahin muss die gesamte Ladung an Bord gebracht worden sein.«
    »Keine Sorge, Exzellenz. Es wird alles zu Eurer Zufriedenheit ausgeführt. Wir werden diesen nichtswürdigen Sklaven schon Beine machen, falls sie …«
    Erst als der Aufseher mitten im Satz abbrach, wurde Nick klar, dass er gegen die oberste und wichtigste Regel des Überlebens verstoßen hatte: In seiner Faszination über die Schönheit und Anmut der jungen Frau in Navarros Begleitung hatte er völlig vergessen, den Blick zu senken – und damit Widerstand und Ungehorsam gezeigt.
    Noch ehe er seinen Fehler berichtigen konnte, waren bereits der Blutegel und zwei seiner Schergen bei ihm, und während der Oberaufseher ihm den Peitschengriff gegen die Kehle presste, zerrten die beiden anderen ihn grob aus der Reihe.
    »Was geht hier vor?«, wollte Navarro wütend wissen.
    »Nichts weiter, Hoheit«, beeilte sich San Guijuela zu beteuern. »Nur ein Sklave, der sich ungehorsam gezeigt hat und dafür die gerechte Strafe bekommen wird.«
    »Was hat er getan?«, erklang die sanfte Stimme von Navarrosjunger Begleiterin. Nicks Pulsschlag beschleunigte sich, als ihr Blick sich auf ihn richtete.
    »Er hat unerlaubt den Blick erhoben und gegen seine Herren gewandt«, erwiderte der Blutegel mit heuchlerischer Entrüstung.
    »Welche Strafe wird er dafür erhalten?«
    »Das liegt im Ermessen Seiner Exzellenz«, sagte der Aufseher unterwürfig und brachte es irgendwie zustande, sich gleichzeitig zu verbeugen und Nick mit dem Peitschenstiel zu würgen.
    »Wohlan«, sprach der Graf hochmütig, »ich werde die Entscheidung darüber meiner Tochter Doña Elena überlassen, die erst vor wenigen Tagen aus der spanischen Heimat nach Maracaibo gekommen ist, um die Kolonie mit ihrem Liebreiz und ihrer Schönheit zu bereichern.«
    Die junge Frau lächelte geschmeichelt, während sich alles in Nick gegen Navarros Worte empörte. Jenes wunderbare Wesen, dessen Anblick ihn so verzaubert hatte, sollte Navarros Tochter sein? Ein Spross des Mannes, den er mehr hasste als jeden anderen? Alles in ihm sträubte sich dagegen, dies zu glauben – andererseits war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden unübersehbar …
    »Wie Ihr wünscht, Hoheit«, erwiderte
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