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Die Erben der Schwarzen Flagge

Die Erben der Schwarzen Flagge

Titel: Die Erben der Schwarzen Flagge
Autoren: Michael Peinkofer
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den Abstand zu verringern. Nobody Jim und Unquatl, die vor ihnen marschierten, taten es ihm gleich – auf diese Weise gewann der ebenso einfältige wie grausame Aufseher den Eindruck, dass sein Gezeter Früchte trug.
    »Es ist immer dasselbe mit euch faulen Hunden«, maulte er weiter und schwang drohend die Peitsche, schlug aber kein weiteres Mal zu. Unter Navarros Schergen gehörte er noch zu den gemäßigteren. Am meisten fürchteten Nick und seine Freunde den Anführer der Aufseher, einen grauhäutigen Mann mit dunklen Augen, dessen Namen sie nicht einmal kannten. Die Sklaven nannten ihn nur »San Guijuela«, nicht etwa, weil er ein Heiliger gewesen wäre, sondern weil sanguijuela übersetzt »Blutegel« bedeutete. Und diese Bezeichnung war zutreffend …
    »Alles in Ordnung, Vater?«, raunte Nick dem alten Angus zu.
    »Alles in Ordnung«, scholl es fast unhörbar zurück. »Mach dir keine Sorgen um mich, mein Junge.«
    Es entsprach der Art des alten Angus, die Zähne zusammenzubeißen und jeden Schmerz tapfer zu ertragen. Aber es war Nick nicht verborgen geblieben, dass sein Vater in letzter Zeit an Kraft eingebüßt hatte. Zwölf Jahre Sklavendienst für die Spanier hatten Spuren hinterlassen, und unter wild wucherndem Bart hatten sich tiefe Falten der Entbehrung in die Züge des alten Seemanns eingegraben. Seine Gestalt war knochig und ausgezehrt, und es zeigten sich unleugbar jene Anzeichen bei ihm, die Nick schon zuvor bemerkt hatte – bei Sklaven, die eines Tages nicht mehr ins Lager zurückgekehrt waren.
    Der Pfad führte jetzt steil bergab. Da der Boden feucht und schlammig war, hieß es sich vorzusehen, wollte man nicht ausgleiten und vom Abgrund verschlungen werden. Nick hatte viele Männer in die Tiefe stürzen sehen, einige von ihnen aus schierer Verzweiflung. Ihre grässlichen Schreie klangen ihm noch im Ohr.
    Die Sklaventreiber scherte das nicht. Von hohen Felsen aus, die ihnen sicheren Tritt und Halt boten, beaufsichtigten sie die Kolonne und ließen immer wieder ihre Peitschen knallen. Den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass das Leder der Aufseher sie nicht ereilte, war alles, was die Sklaven tun konnten. Auch Nick fügte sich in sein Schicksal – aber mit jedem Schritt, den er machte, wuchs sein Widerwille gegen das Dasein, das er fristete.
    Nobody Jim, der wiederum vor ihm marschierte, rutschte auf einer Wurzel aus, die quer über den schmalen Pfad wucherte.
    »Vorsicht, Jimmy«, ermahnte ihn Nick. »Ein Tritt daneben, und ich kriege deine Abendration.«
    »Das fehlte noch«, kam es zurück. »Schimmliges Brot und fette Maden sind zwei gute Gründe, am Leben zu bleiben.«
    »Ruhe!«, tönte es barsch von oben herab. »Wollt ihr wohl das Maul halten, verdammtes Gesindel? Oder muss ich es euch erst stopfen?«
    Die Freunde verstummten augenblicklich, denn wer diese Worte gerufen hatte, war kein anderer als San Guijuela, der gefürchtete Anführer der Aufseher. Sich ihm zu widersetzen, bedeutete den sicheren Tod. Wer sich San Guijuelas Zorn zuzog, der wurde bis aufs Blut gequält – so lange, bis er entweder den Strapazen erlag oder sich selbst in die Tiefe stürzte, um weiteren Schikanen zu entgehen.
    In engen Serpentinen wand sich der Pfad immer weiter hinab, bis er endlich die ersten Ausläufer Maracaibos erreichte und die Straße zur Festung kreuzte. Eine von vier Pferden gezogene Kutsche kam die gestampfte Fahrbahn herab, worauf die Aufseher die Sklaven nötigten, stehen zu bleiben und mit der schweren Last auf dem Rücken niederzuknien. Die Silbersäcke absetzen durften sie nicht, damit der Inhalt nicht schmutzig wurde. Wer es dennoch tat, wurde ausgepeitscht.
    »Die Köpfe runter, ihr elenden Hunde!«, wetterte der Blutegel. »Es steht euch nicht zu, den Blick zu heben, wenn die Kutsche von Graf Navarro vorbeifährt.«
    Den Namen des Mannes zu hören, um dessentwillen sie all dies ertragen mussten, versetzte Nick einen Stich ins Herz. Schwer atmend und den Blick auf den schlammigen und von faulendem Laub übersäten Boden gerichtet, konnte er hören, wie sich der Vierspänner näherte, vernahm den Hufschlag der Pferde und das Rasseln des Geschirrs. Sein Innerstes bebte vor Zorn, und er konnte nicht anders, als die Fäuste zu ballen. Seine Wut schlug jedoch in Entsetzen um, als er merkte, dass der Hufschlag der Pferde sich verlangsamte.
    Die Kutsche hielt an.
    Nick riskierte einen vorsichtigen Blick und erkannte das goldene Wappen Navarros auf der sonst schwarzen Kutsche. Im nächsten
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