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Die Erben der Schwarzen Flagge

Die Erben der Schwarzen Flagge

Titel: Die Erben der Schwarzen Flagge
Autoren: Michael Peinkofer
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sich, den Inhalt zu verzehren, ehe zum Appell gerufen wurde. Sich dann noch mit der Schale in der Hand erwischen zu lassen, war eine ausgesucht schlechte Idee.
    Noch war die Sonne nicht aufgegangen, und die orangefarbene Dämmerung, die im Osten über dem Dschungel aufzog, gab die einzige Beleuchtung ab. Der Musketenschuss, mit dem die Sklaven geweckt wurden, erklang stets eine Stunde vor Sonnenaufgang, damit das Licht des neuen Tages die Gefangenen bereits bei der Arbeit sah. Die leeren Säcke über der Schulter, versammelten sich die Sklaven auf dem Exerzierplatz und blickten den Strapazen, die sie erwarteten, gefasst entgegen. Man vermied es, dem anderen ins Gesicht zu sehen. Keiner der Sklaven wusste, ob er an diesem Abend ins Lager zurückkehren würde, und so pflegten die Männer allerhand Aberglauben.
    Nick glaubte nicht an solche Dinge. Was ihn aufrecht hielt, war die geheime Hoffnung, die er tief in seinem Herzen hegte. Die Hoffnung, eines Tages kein Gefangener mehr zu sein undwieder unter freiem Himmel zu segeln, zusammen mit dem alten Angus und seinen Freunden fremde Gestade anzusteuern und das Elend des Sklavendaseins hinter sich zu lassen. Dem Stern zu folgen, von dem sein alter Vater sprach, solange Nick zurückdenken konnte, und der sein persönliches Schicksal war.
    Dass diese Hoffnung ebenso fern wie trügerisch war, machte der scharfe Knall der Peitschen deutlich, die von den Aufsehern geschwungen wurden – grobschlächtigen, brutalen Kerlen, die früher in der Armada gedient hatten und weder Mitleid noch Gnade kannten. Unter wüsten Beschimpfungen setzten sie den Zug der Sklaven in Gang. In einer endlos scheinenden Kolonne marschierten die Gefangenen zum Haupttor hinaus, begleitet von gleichförmigem Trommelschlag und von den Fußketten, die im Takt dazu klirrten.
    Über die schmale Straße aus gestampftem Lehm ging es die Anhöhe hinauf, dem Pfad entgegen, dem die Spanier den Namen el sendero de la plata gegeben hatten – der Pfad des Silbers. Die Sklaven jedoch nannten ihn ungleich treffender el sendero de la muerte – den Pfad des Todes.
    Einen Fuß vor den anderen zu setzen, wieder und wieder, darin bestand das Geheimnis des Überlebens.
    Einen Fuß vor den anderen – ungeachtet der schweren Last auf dem Rücken und der Riemen, die in die Schultern schnitten. Ungeachtet der schmerzenden Glieder. Ungeachtet der Aufseher und ihres Geschreis, ungeachtet der Peitschenhiebe, die demjenigen drohten, der seine Last verlor oder langsamer wurde. Ungeachtet derer, die zurückblieben, weil sie der Strapaze und der Hitze nicht mehr gewachsen waren und ihre ausgemergelten Körper den Dienst versagten. Ungeachtet der Verzweiflung, die einen in jedem Augenblick übermannen wollte.
    Einen Fuß vor den anderen.
    An jedem einzelnen Tag, unabhängig davon, ob die Sonne vom Himmel stach oder strömender Regen sich entlud und den Pfad über die Berge gefährlich und fast unpassierbar machte. Wer den Kopf gesenkt hielt und seine Arbeit tat, wer ohne zu murren die Befehle ausführte, die die Aufseher erteilten, der hatte die besten Chancen, den nächsten Tag zu erleben. Und den danach …
    Nick hatte aufgehört zu zählen, wie oft er schon einen Fuß vor den anderen gesetzt hatte auf dem unwegsamen Pfad, der sich an den Hängen der Berge emporwand, von den schmalen Straßen Maracaibos hinauf in den dichten Dschungel, dessen üppiges Grün die Hafenstadt zu drei Seiten umgab. Unzählige Male war er dem Pfad des Todes schon gefolgt – mit einem leeren Sack auf dem Rücken, wenn es hinaufging, und mit einem Sack voll Silber den Hang hinab.
    Täglich trafen neue Lieferungen aus den Minen ein, die die Spanier in den Tiefen des Urwalds unterhielten, und es war die Aufgabe der Sklaven, sie zum Hafen zu transportieren, wo sie auf Schiffe verladen und in den nächstgelegenen Schatzhafen verbracht wurden. Dort wurde das Silber gesammelt und schließlich nach Spanien gebracht – um den Besitz eines fernen Königs zu mehren, der seinen Fuß noch nie in diesen Teil der Welt gesetzt hatte.
    Über den steilen Aufstieg erreichte der Sklavenzug die Passhöhe, von der aus man die Bucht und das von zwei mächtigen Wachtürmen gesäumte Hafenbecken Maracaibos überblicken konnte. Zahlreiche Schiffe lagen darin vor Anker, spanische Kriegsgaleonen, aber auch Handelsschiffe aus neutralen Ländern, die nicht am Krieg zwischen Frankreich und der Allianz beteiligt waren.
    Oberhalb des Hafens, auf der steilen Klippe, die die Bucht im
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