Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Erben der Schwarzen Flagge

Die Erben der Schwarzen Flagge

Titel: Die Erben der Schwarzen Flagge
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
einholländischer Seemann, den die Sehnsucht nach seiner fernen Heimat fast umgebracht hatte. Aus Verzweiflung hatte er schließlich einen Fluchtversuch gewagt – sein Leichnam hing noch immer draußen vor dem Haupttor und verfaulte in der Hitze der karibischen Sonne.
    »Ich glaube kaum, dass unser Nick gut geschlafen hat«, sagte jetzt Nobody Jim, ein junger Afrikaner, der in Nicks Alter war und sein bester Freund im Lager. »Man braucht ihn nur anzusehen, um zu wissen, dass er wieder geträumt hat. Oder irre ich mich?«
    »Blödsinn«, knurrte Nick, während er sich aufrappelte und versuchte, die nach Schweiß und Schlamm stinkenden Lumpen, die er am Leib trug, ein wenig zu ordnen.
    Dabei hatte Jim den Nagel auf den Kopf getroffen.
    Nick hatte den Traum tatsächlich wieder gehabt – jenen Traum, der ihn verfolgte, solange er zurückdenken konnte. Schon als Junge hatte er ihn heimgesucht, in heißen karibischen Nächten, in denen die Zeit stillzustehen schien und sich kein Windhauch regte. Mit der Hitze kamen die Träume, und es waren immer dieselben Bilder, die Nick im Schlaf vor Augen hatte: Bilder von einem Kampf auf hoher See, von einem Schiff, das in Flammen stand. Nick konnte dabei keine Einzelheiten erkennen, sah nur verschwommene Gestalten und schemenhafte Eindrücke. Aber er konnte die Schreie der Verwundeten hören und den Donner der Kanonen. Und er konnte den bitteren Atem des Feuers riechen, das alles um ihn herum verzehrte …
    Jim entblößte die blendend weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Mir kannst du nichts erzählen, Bruder«, feixte er. »Dafür kenne ich dich zu gut und zu lange. Willst du mir wirklich weismachen, du hättest vergangene Nacht nicht von Schiffen und von Feuer geträumt?«
    »Blödsinn«, sagte Nick noch einmal und bereute es fast, Jim einst von seinem Traum erzählt zu haben. Es war nichts, worüber er gerne sprach, und auch jetzt in wachem Zustand brauchte er nur an die Traumbilder zu denken, um trotz der dampfigen Hitze, die im morgendlichen Lager herrschte, zu schaudern. Diese Bilder berührten etwas tief in ihm. Etwas, das ihn vor Furcht erbeben ließ und an dem er lieber nicht rühren wollte.
    Natürlich hatte er versucht herauszufinden, was es mit jenem Traum auf sich hatte. Er hatte den alten Angus danach gefragt, aber der hatte auch keine Antwort gewusst. Der hünenhafte Indianer Unquatl, der ebenfalls unter den Sklaven weilte und zu Nicks Freunden zählte, hatte angemerkt, dass Träume die Stimme der Seele seien. Wenn das stimmte, dachte Nick, dann wollte seine Seele ihm wohl etwas sagen – das Problem war nur, dass er ihre Sprache nicht verstand.
    Zusammen mit den anderen Sklaven verließ er den Unterstand. Draußen standen mehrere Fässer, die sich in der Nacht mit Regenwasser gefüllt hatten und nun der Morgentoilette dienen sollten. Die meisten Gefangenen machten einen großen Bogen darum, Nick tauchte seine Hände hinein und schaufelte sich einige Ladungen des lauwarmen Wassers ins Gesicht. Wie die meisten Gefangenen trug er sein Haar kurz geschoren als Schutz vor den Läusen, die einen sonst bei lebendigem Leib auffraßen. Nick hatte Männer den Verstand verlieren sehen wegen der kleinen Biester, von denen es im Sklavenlager nur so wimmelte, ebenso wie von Kakerlaken, Blutegeln, Ratten und anderem Viehzeug, mit dem niemand gern sein Lager teilte – doch den Spaniern war das reichlich gleichgültig.
    Auf dem großen Exerzierplatz, der sich zwischen den Unterständen erstreckte, formten die Sklaven eine Warteschlange. Nicht, dass die karge Mahlzeit, die zweimal am Tag ausgegebenwurde, das Warten wirklich gelohnt hätte, aber etwas anderes gab es nicht, und wer bei Kräften bleiben wollte, der durfte nicht wählerisch sein. Fleisch stand so gut wie nie auf dem Speiseplan der Sklaven, dafür dünner Haferbrei und Schiffszwieback aus ausgemusterten Beständen. Ab und zu auch Fisch, der jedoch häufig Tage alt war und dessen Verzehr einen das Leben kosten konnte. Satt wurden die Gefangenen weniger von den kargen Rationen selbst als von den fetten weißen Maden, die sich im schimmeligen Brot tummelten und nahrhafter waren als alles andere.
    »Seht euch das an«, rief Nobody Jim triumphierend und hielt den Zwieback hoch. »Habt ihr schon mal ein so fettes Ding gesehen? Das gibt einen Festschmaus, sage ich euch …«
    Tische und Bänke gab es nicht. Wer seine Schale gefüllt bekommen hatte, der setzte sich damit auf den Boden und beeilte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher