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Die Endlichkeit des Lichts

Die Endlichkeit des Lichts

Titel: Die Endlichkeit des Lichts
Autoren: Susanne Riedel
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Verna belustigt,
»ein was haben Sie nur noch, mein Freund?«
    »Ein Bein!« antwortete Alakar schlicht.
     
    Ein
Bein. Guter Gott.
    »Nun, natürlich...«, sagte sie. Anne
Sexton hatte wenigstens ihren eigenen Irrsinn gehabt. Aber in meinem Traum
warst du ein sonderbarer Mann aus Stein. Anne Sexton hatte sich dem Alltag
wenigstens verweigert, Dingen wie diesem hier, fremdem Irrsinn.
    »Nichts Schlimmes«, behauptete der
Pilzsammler. »Ein Unfall, als ich kleiner war. Dieser Bus, wissen Sie...«
    Das Publikum versteinerte, Augen wie
Bratpfannen. Ein Bein. Unfall. Als er kleiner war. Bewegungslos stand Manasse,
der Produktionsleiter, unter dem Stinkmorchel-Dia. Vernas Stöhnen zertrümmerte
die Stille zwischen ihr und den Zuschauern, in der sich plötzlich das blutige
Bein des zukünftigen Pilzsammlers befand. Bleiern, ein winziger, verrutschter
Kniestrumpf, nicht mehr ganz weiß.
    »Es ist auch nicht das ganze Bein«,
sagte Alakar Macody behutsam. »Im Grunde nur... ab dem Oberschenkel... laufen
allerdings...«
    Seine Stimme, die tatsächlich Izzys
Stimme ähnelte, zerfiel in herbstfarbene dünne Bröckchen. Sie segelten über das
verlorene Bein, angestrahlt von Scheinwerfern. Ein Skandal, dachte Verna, ich
werde umfallen, und Brainonia wird endlich einen Skandal haben. Ich
liebe Entscheidungen, die einem abgenommen werden.
    Dann knallte die Werbung in ihr
Schweigen.
    »Einen Moment«, sagte sie und drückte
Alakar Macody in die Warteschleife. Mit den Handrücken schob sie sich das Haar
aus dem Gesicht und starrte die pudrigen Schlieren an, die das Make-up auf
ihrer Haut hinterließ.
    »Süße«, sagte Manasse von der Seite,
»tut mir leid. Unglücklicherweise — es ist der Ersatzkandidat. Der andere ist
perdu. Unauffindbar. Wahrscheinlich beide Beine abgerissen. Entführt,
erschossen oder so. Aber der hier ist doch Gold wert, Süße.«
    »Woher?« fragte sie.
    »Notfalldatei! Computer!« sagte Manasse
feige.
    »Dein Computer kotzt mich an«, sagte
sie, aber er blickte durch sie hindurch mit Augen, die man morgens melken
mußte.
    »Du glaubst, daß ich lüge, Süße, was?
Wirklich, der andere hat vorhin abgesagt. Und der hier ist der Hammer.
Das gibt die Schlagzeile: Pilzkönig im Glück — mit einem Bein im
Jackpot!«
     
    Auf dem Bildschirm lief Werbung,
während Alakar erstarrt neben dem altmodischen Kühlschrank am Telefon wartete.
An die Schnur gefesselt, hätte er keinen Schritt tun können, selbst wenn er es
gewollt hätte. Die Glückskäfer sangen, ein Lied, das wie ein Schluchzen klang.
Als er aus dem Fenster spähte, bewegte sich etwas an der Mole, wo der Fluß eine
Kerbe ins Land geschnitten hatte, seine Bucht, Gottes nasses Seziermesser.
Plötzlich jaulte ein Fuchs auf und wischte wie ein dünner rötlicher Pfeil über
den Steinhaufen, den Alakar im Frühjahr für die Feuersalamander aufgeschichtet
hatte. Für die Feuersalamander, die sich seitdem nicht mehr blicken ließen. Im
Tümpel schlüpften Bergmolche mit knistrig-dumpfen Geräuschen. Wahrscheinlich
wußte Verna weder, daß sie zu Neotonie neigten, noch, was Neotonie war, die
unvermittelte Geschlechtsreife der Larven.
    Es klickte, und da war wieder ihre
Stimme und draußen die Gelbbauchunke, Bombina variegata, die ihn rief. Von
ihren herzförmigen Pupillen würde er Verna erzählen und wie er in einer Nacht
die hornigen Schwielen an den Zehen des Tiers betrachtet hatte.
    »Alakar?« Einen Augenblick war er nicht
sicher, ob die Unke zu ihm sprach. Das geheimnisvolle Rufen der Dinge, die
anklopften, in ihm brachen und sich wieder zusammenfügten. Der dunkle Drang,
von dem T. S. Eliot sprach.
    »Alakar, hören Sie mich?« Stunden
schienen vergangen, er warf einen Blick auf die Taschenuhr. »Alakar?«
    »Ja«, sagte er atemlos, »ja!« Höchstens
fünf Minuten, seit der Anrufbeantworter angesprungen, seit Verna Albrecht in
sein Leben getreten war. Fünf Minuten, ein gemeinsames Schicksal.
    »Lassen Sie uns einfach beginnen!«
    Der unfertige Hexameter pendelte in der
Luft, fiel in seinen Schädel zurück und erkaltete an jenem Ort hinter seinen
Augen, wo die Dauer geboren wurde, die Schönheit und der Schmerz.
Wahrscheinlich würde Verna ihn am Ende fragen, woher er seine Kenntnisse der
Lyrik bezog. Ich feile selbst ein bißchen, würde er sagen, höflich, in dem
leisen, festen Ton, der zu der Stimme seiner Gedichte paßte. Sie würde ihn
bewundern, weil Frauen Gedichte bewunderten und umgekehrt.
    »Pilze«, sagte Verna bestimmt, »sind
für viele
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