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Die Elfen des Sees

Die Elfen des Sees

Titel: Die Elfen des Sees
Autoren: Monika Felten
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nicht fort, sondern setzte sich auf den Felsen. Lya-Numi sah, dass er die Augen geschlossen hatte und schlief. »Er bleibt, um uns zu wärmen und zu beschützen«, erklärte Gilraen ungefragt und machte einmal mehr deutlich, dass sie in Lya-Numis Gedanken las wie in einem offenen Buch. »Hier oben kann man nie wissen.«
    »Müssen wir denn noch lange warten?«, wollte Lya-Numi wissen.
    »Bis zum Abend. Vielleicht auch noch darüber hinaus.«
    »So lange?« Lya-Numi seufzte. »Das muss ja wirklich etwas ganz Besonderes sein.«
    »Ja, das ist es.« Gilraen nickte und wechselte völlig unerwartet das Thema, indem sie fragte: »Was hältst du von den Menschen?«
    »Von den Menschen?« Lya-Numi zögerte. Was sollte sie antworten? Das, was alle in ihrem Heimatdorf sagten? Dass die Menschen selbstherrlich und rücksichtslos waren? Eindringlinge, die das Volk der Nebelelfen mehr und mehr ihrer Heimat beraubten?
    Nach allem, was sie im Tempel erlebt hatte, wusste sie, dass dies nicht die Antworten waren, die Gilraen hören wollte. Anders als im Grasland schienen sich die Priesterinnen im Tempel mit der Ausbreitung der neuen Rasse abgefunden zu haben und standen den Menschen freundschaftlich gegenüber. »Ich … bin noch zu wenigen Menschen begegnet, um mir eine Meinung bilden zu können«, antwortete sie schließlich ausweichend. »Es wäre nicht recht, einfach nur das weiterzugeben, was man im Grasland über sie sagt.«
    »Und was sagt man dort?«
    »Dass die Menschen in Thale nicht willkommen sind. Die meisten Elfen des Sees wünschen sich, dass sie dorthin zurückkehren, woher sie gekommen sind.«
    Die Hohepriesterin nickte bedächtig: »Das habe ich auch schon gehört«, sagte sie. »Aber es wird nicht geschehen. Die Menschen werden nicht zurückgehen. Die Ersten, die hier siedelten, waren Flüchtlinge wie einst auch unsere Ahnen. Und wie unsere Ahnen wollen auch die Menschen nicht zu ihrem früheren Leben zurückkehren. Es ist wie mit den Weidenstöcken, die wir Priesterinnen abschneiden und in unserem Garten in die Erde stecken. Wie sie haben auch die Menschen hier Wurzeln geschlagen. Sie sind eine kurzlebige Rasse, die uns besitzergreifend und wenig vorausschauend erscheinen mag. Aber wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass in ihnen auch viel Gutes steckt. Das zu erkennen und zum Wohle beider Völker zu nutzen, wird die große Herausforderung sein, der sich die künftige Hohepriesterin von Thale wird stellen müssen.«
    »Sprecht … Ihr von mir?«, fragte Lya-Numi gedehnt.
    »Von dir oder einer anderen, die ich erwählen werde, wenn du dich dagegen entscheiden solltest.« Weder Vorwürfe noch Bitternis schwangen in der Stimme der Hohepriesterin mit. Sie lächelte. »Aber darüber reden wir morgen.«
    Die Sonne stieg höher, überwand den Zenit und ließ schließlich erneut ein farbenprächtiges Abendrot über den Bergen erstrahlen. Lya-Numi hatte mit Gilraen geredet und gar nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging. Sie hatte so viele Fragen, und die Hohepriesterin hatte alle geduldig beantwortet. Hier oben in der Abgeschiedenheit des Ylmazur-Gebirges gab es nur sie beide, und sie kamen einander so nah, wie es im Tempel niemals möglich gewesen wäre. Lya-Numi war überrascht, wie offen die Hohepriesterin zu ihr sprach, und wie selbstverständlich gab auch sie vieles von sich preis, das sie an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit gewiss für sich behalten hätte.
    Als die untergehende Sonne die schneebedeckten Gipfel in feurigem Rot erglühen ließ, schwiegen sie beide und genossen den Zauber des Augenblicks, jede auf ihre Weise. Obwohl der Fels karg, die Luft eisig und die Berge einsam waren, spürte Lya-Numi mehr und mehr, dass dies kein gewöhnlicher Abend war. Es lag etwas in der Luft, das sie nicht sehen, nicht fühlen und nicht greifen konnte – die Ahnung von etwas Großem, Einmaligem, die mit dem schwindenden Licht immer stärker wurde, ohne dass Lya-Numi einen Grund dafür ausmachen konnte.
    Sie fragte die Hohepriesterin danach, doch die legte nur den Finger auf die Lippen und schüttelte stumm den Kopf. Lya-Numi spürte, dass sie auf etwas wartete, und weil ihr nichts anderes übrig blieb, beschloss sie, es Gilraen gleichzutun. Schweigend beobachtete sie, wie das Himmelsfeuer schwächer wurde und zu einem schmalen Lichtstreifen zusammenschrumpfte, vor dem die Gipfel der Berge wie schwarze Riesen anmuteten. Insgeheim hatte sie erwartet, dass die seltsame Stimmung mit dem Licht schwinden
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