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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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Prolog

    Die Königin wartete. Sie saß am Fenster und sah die Lichter der Stadt im letzten Rest des langen Zwielichts funkeln. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen, aber es war immer noch nicht völlig dunkel. Es würde auch keine echte Dunkelheit eintreten, nur in der ein oder anderen unbeleuchteten Ecke. Die Laternen würden die ganze Nacht lang brennen, während die Menschen von Fest zu Fest zogen, bis sie die Rückkehr der Sonne und den neuen Tag begrüßten, um schließlich nach Hause zu wanken. Sie feierten mit Wein, Musik und Tanz einen Tag, von dem sie angenommen hatten, dass er nie kommen würde. Den Hochzeitstag der Königin. Sie saß am Fenster, betrachtete die Lichter, lauschte der Musik und wartete auf ihren Ehemann.
    In Attolia kam in der Hochzeitsnacht die Frau zu ihrem Mann. In Eddis kam der Mann zu seiner Braut. Sie hatten sich entschieden, dem eddisischen Brauch zu folgen. Die Eddisier konnten das so deuten, dass die Königin sich den Sitten der Heimat ihres Bräutigams anpasste, aber die Attolier würden darin einen weiteren Beleg dafür erblicken, dass die Königin sich über die traditionellen Pflichten einer attolischen Frau hinwegsetzte. Es war ein genau berechneter Tanz aus Schatten und Inhaltslosigkeit, aber unter alledem verbarg sich die Heirat zweier Menschen. Heute hatte sie die Herrschermacht über ihr Land an
Eugenides abgetreten, der alles, was er sich je erhofft hatte, aufgegeben hatte, um ihr König zu werden.
     
    Auf dem großen, offenen Palasthof standen Tische und leuchtende Laternen mit bunten Papierblenden. Ornon, der Botschafter von Eddis, unterdrückte erst ein Gähnen und dann das Lächeln, das darauf folgte, als er sich die Zukunft des einstigen Diebs von Eddis ausmalte. Er und Eugenides waren alte Feinde, und bei der schönen Vorstellung, den Dieb von Herrscherpflichten niedergedrückt zu sehen, wurde ihm warm ums Herz. Sie war weitaus befriedigender als irgendeine kleinliche Rache, die Ornon sich hätte einfallen lassen können. Die Königin von Eddis las von der anderen Seite des Hofs her seine Gedanken und warf ihm einen Blick zu, der ihn dazu brachte, sich gerader aufzusetzen, noch einen Schluck Wein zu nehmen und sein Lächeln seinem Tischnachbarn zuzuwenden.
     
    Auf der Palastmauer stand ein junger Gardist auf Posten und hatte beinahe die gleiche Aussicht über die Stadt wie die Königin von Attolia von ihrem Fenster aus. Er verpasste das Fest, aber er hielt ohnehin nicht viel vom Trinken und von Prügeleien, und so machte es ihm nichts aus. Er war gern hoch über dem Palast postiert. Die Einsamkeit und die Zeit fern vom Lärm der Baracken und seiner Kameraden verschafften ihm Gelegenheit zum Nachdenken. Dieser Dienst auf den höchsten Ausläufern der Palastmauern war ihm am liebsten. Es gab keine Gefahr, nach der er Ausschau halten musste: Kein Schiff aus Sounis konnte ihren Hafen erreichen, keine Armeen würden aus den Hügeln jenseits des Tals herunterströmen. Attolias gefährlichster Feind war bereits im Palast  – und nun wohl kein Feind mehr. Heute Nacht hätte Costis genauso gut schlafen können, so unwichtig war sein Wachdienst. Doch er nahm Haltung an und
versuchte, aufmerksam zu wirken, als sein Hauptmann neben ihm erschien.
    »Costis«, sagte der Hauptmann, »du verpasst das Fest.«
    »Ihr auch, Hauptmann.«
    »Das macht mir nichts aus.« In der Stimme des Hauptmanns lag keinerlei Gefühlsregung.
     
    Später in der Nacht, als die offiziellen Bankette im Palast zu Ende gegangen waren, schob der Archivsekretär, fern aller noch immer lautstarken Feiern auf den Straßen der Stadt, die Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. Mehr als irgendjemand sonst hatte er Anlass, den neuen König zu fürchten. Er war insgeheim an die Königin herangetreten und hatte ihr vorgeschlagen, Möglichkeiten durchzusprechen, die Macht des Königs zu beschränken. Eugenides war jung; er war unerfahren, ungestüm und naiv. Er würde leicht zu lenken sein, sobald der Einfluss seiner eddisischen Ratgeber nachließ, wie er es unweigerlich tun würde. Die Königin hatte mit einem warnenden Blick geantwortet, der ausgereicht hatte, Relius deutlich zu machen, dass er seine Kompetenzen überschritten hatte. Er hatte sich unter Entschuldigungen zurückgezogen. Er würde das Schicksal des Königs der Königin überlassen, aber er würde sich selbst nicht vormachen, dass er keine Angst hatte.

Kapitel 1

    Costis saß in seinem Zimmer. Auf dem Tisch vor ihm lag ein Stück
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