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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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Beutel, den sie am Gürtel trug. Sie stand auf, um sich noch einmal im Tempel umzusehen. Es gab kein weiteres Anzeichen dafür, dass die Ereignisse, an die sie sich erinnerte, irgendetwas anderes als ein Traum gewesen waren.
    Sie schob einen Finger in den Beutel, um das kleine Wachsstück anzustoßen. Entschlossen, das wenige, woran sie sich noch erinnerte, nicht zu vergessen, ging sie ihr Pony holen. Nestor war ungewöhnlich widerspenstig: Er riss den Kopf herum und wich bei jeder Gelegenheit vor ihr zurück. Am Ende verlor sie die Fassung und stampfte auf dem grünen Grasteppich hinter dem Tempel mit dem Fuß auf. »Ich werde es nicht vergessen!«, sagte sie. »Und es ist mir gleich, wie sehr du mich abzulenken versuchst.« Nestor senkte den Kopf fast so, als sei er verlegen, und kam kleinlaut zu ihr.
    Auf dem Ritt nach Hause durchnässte sie ein plötzlicher Schauer, Nestor glitt auf einem felsigen Teil des Pfads aus und stürzte beinahe, der Wind blies besonders hübsche weiße Wolken über den Himmel, und auch ein Regenbogen erschien. In den Büschen raschelte es geheimnisvoll, und eine ganze Reihe von Tieren kam daraus hervor, um sie neugierig zu beobachten. Stur ignorierte Helena jede Ablenkung und ging stattdessen im
Kopf immer wieder alle Einzelheiten durch, die ihr aus ihrem Traum im Gedächtnis geblieben waren: Lias, Pylaster und Janus tot, sie selbst die letzte Herrscherin von Eddis, der vierjährige Junge ihr Dieb. Von Zeit zu Zeit steckte sie einen Finger in ihre Gürteltasche, um den Wachsknopf zu berühren und ihre Erinnerungen noch einmal zu bestätigen.
    Als sie sich ihrem Zuhause näherte, umfing sie die Besorgnis wie Rauch. Wenn ihre Mutter nach ihr gefragt hatte, wenn irgendjemand das fehlende Pony bemerkt hatte, wenn Xanthe in Panik geraten war und verraten hatte, was für eine Botschaft Helena hinterlassen hatte … Die Möglichkeiten beanspruchten all ihre Gedanken, bis dann, als sie am Tor zum Stallhof eintraf, sogar der Traum weniger wichtig erschien als der kommende Augenblick der Wahrheit.
    »Euer Hoheit!« Der Stallmeister kam selbst, um Nestors Zügel zu ergreifen. »Unsere Königin, Eure Mutter, war sehr besorgt«   – Helenas Fäuste krampften sich vor Schreck fester um die Zügel  – »dass Ihr zu spät von Eurem Ausritt heute Morgen zurückkehren könntet.« Natürlich hatte er den leeren Stall bemerkt, und einer der Stallknechte musste ihr Bündel gesehen haben, aber niemand hatte ihr Geheimnis verraten. Mit undurchdringlicher Miene fuhr der Stallmeister fort: »Ich habe ihr versichert, dass ich Euch zu ihr senden würde, sobald Ihr zurück wärt.«
    »V… vielen Dank, Cousin«, sagte sie und machte durch die vertrauliche Anrede deutlich, dass ihr bewusst war, wie sehr sie in seiner Schuld stand. Sie wandte sich ab, aber der Stallmeister hielt sie zurück, indem er sie am Arm berührte.
    »Wenn Eure Hoheit eine Nachricht mit dem Ziel ihres Ritts hinterlassen hätte, hätte ich einen Boten ausschicken können. In Zukunft wäre das sehr entgegenkommend.«
    »Ja … natürlich«, stammelte Helena, gern bereit, sich auf den
Handel einzulassen. Er war bereit, künftig ihre Geheimnisse zu bewahren, aber nur, wenn er wusste, dass sie in Sicherheit war. Sie konnte zurückkehren. Unwillkürlich durchsuchte sie ihre Gürteltasche, während sie über den Stallhof lief, um der Aufforderung ihrer Mutter Folge zu leisten. Sie konnte zurückkehren! Die Gürteltasche war leer.
    Sie hielt inne und sah ihre leere Hand an. Zurückkehren? Sie überlegte es sich noch einmal. Es war zwar schön gewesen, allein in dem Bergtal zu übernachten, aber es gab schließlich noch andere Orte zu entdecken, und sie erinnerte sich, dass es dort kalt gewesen war. In dem engen Tal hielt sich die Winterkälte. Sie würde es beim nächsten Mal weiter unten in den Bergen versuchen. Sie wollte sich auch noch an etwas anderes erinnern, aber ihr fiel nicht ein, woran. Sie eilte über den Stallhof und hoffte, dass sie später darauf kommen würde.
    Sie erinnerte sich nicht. Nicht, wenn sie mit ihrem Cousin Eugenides spielte, der ihr von all ihren vielen Cousins bei weitem der Liebste war, nicht, als die Krankheit ausbrach, die ihre drei Brüder allesamt binnen weniger Tage dahinraffte. Sie kehrte nie in das enge Tal hoch oben im Jagdrevier zurück, um den verlassenen Tempel noch einmal zu besuchen, aber sie setzte ihre einsamen Ausflüge fort und tat dabei, unterstützt von Xanthe, dem Stallmeister und einer
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