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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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zurückgestohlen, aber sie bezweifelte, dass sie dazu in der Lage war, und selbst, wenn es ihr gelungen wäre, wären die älteren Jungen erwacht, wenn sie die Kälte gespürt hätten, genau wie sie. Wenn sie es sich zurückholten, würde es keine Heimlichtuerei geben. Sie war ja vielleicht sehr kräftig für ein Mädchen, aber sie war immer noch erst neun Jahre alt und im Vergleich zu den Gefährten ihres Bruders winzig. Aber sie war entschlossen, nicht wie eine Büßerin an ihr Feuer gekrochen zu kommen. Sie konnte zumindest genug Holz zurückstehlen, um den Rest der Nacht in der Wärme, die ihr eigener Brennstoff abgab, verschlafen zu können.
    Sie strampelte die Decken von sich und stand leise auf. Der Feuerschein kam eindeutig aus dem Tempel, was sie empörend fand. Es gehörte sich nicht, in einem Tempel zu kampieren  – auch nicht in einem verlassenen. Lautlos schlich sie sich an der Wand entlang auf das Licht zu. Sie tastete vorsichtig nach herabgestürzten Steinblöcken, doch es lagen keine im Weg. Als sie das Loch in der Tempelmauer erreichte, war es türförmiger, als sie es in Erinnerung hatte, aber das Ebenmaß des Durchgangs war noch weniger geheimnisvoll als alles andere. Helena hockte im Dunkeln, unmittelbar außerhalb des Lichtscheins, der von dem Feuer ausging, das vor dem Altar brannte, und starrte hinein. Wer auch immer ihr Holz gestohlen hatte, war kein Neuer Speer.
    Sie konnte durch die Tür zwischen den schweren Innensäulen hindurchblicken, die das Dach trugen. Der Marmorboden war frei von Schutt und von Teppichen bedeckt. Standleuchter mit feinen Wachskerzen verstärkten das Licht, das in den wiederhergestellten Mauern der Feuergrube brannte. Wie Helena aufging, war nicht nur die Feuergrube ausgebessert worden, sondern auch das Dach und die Wände. Die Wandgemälde waren wieder da, und auch die Friese darüber. Helena legte eine Hand auf die glatte Steinmetzarbeit der Tür und sah dann wieder ins Tempelinnere.
    Im Feuerschein ruhte eine Frau, die sogar noch schöner als Helenas Mutter war, auf einer Liege; neben ihr stand ein kleiner Tisch und darauf eine Schale mit Taubeneiern. Vor Helenas Augen suchte sich die Frau ein Ei aus und schlug es an der Tischkante auf. Die größeren Stücke der Eierschale warf sie ins Feuer, aber die kleineren ließ sie unachtsam fallen. Wenn sie auf dem reinweißen Stoff ihres Kleids landeten, fegte sie sie zu Boden.
    Vom Altar herab sah ein junger Mann zu ihr hinunter. Helena dachte zuerst, dass er im Alter eines Neuen Speers wäre,
aber dann wirkte er doch älter, und sie war sich nicht mehr sicher. Er war ganz in Grau gekleidet, saß im Schneidersitz da und aß Nüsse aus einer Silberschale. Ihre Nüsse, wie Helena begriff. Sie musste einen Laut ausgestoßen haben. Die Frau auf der Liege regte sich ein wenig und sagte zu der Gestalt auf dem Altar: »Wer ist da?«
    Der junge Mann sah zu Helena hinüber, und sie zog sich in die Dunkelheit zurück.
    »Eddis«, sagte der Mann, und Helena riss überrascht den Kopf herum, um überall auf der Terrasse nach ihrem Vater Ausschau zu halten.
    »Sie hat bemerkt, dass ihr Feuerholz abhandengekommen ist«, fuhr der Mann unerklärlicherweise fort. Helena konnte niemanden sonst auf der Terrasse entdecken.
    »Du isst doch schon ihre Nüsse«, sagte die Frau auf der Liege träge. »Es war nicht freundlich, auch noch ihr Feuer zu nehmen.«
    »Unfug!«, erwiderte er. »Wenn du denkst, dass ich unfreundlich bin, dann bitte sie doch, zu uns zu kommen.«
    »Ich nehme an, wir können sie das Ganze bis zum Morgen wieder vergessen lassen.« Die Frau winkte Helena mit einer schönen, weißen Hand zu sich heran. »Komm, meine Liebe«, sagte sie.
    Wider besseres Wissen trat Helena vorsichtig bis an die inneren Säulen heran.
    »Die letzte Eddis, nicht wahr?«, fragte die Göttin, aber sie sprach an den Mann gerichtet. »Habe ich sie schon einmal gesehen? Sie ähnelt ihrem Vater.«
    »Hast du denn ihren Vater gesehen?«, fragte der junge Mann erheitert.
    »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ihren Großvater. Sie ist zwar wirklich kein hübsches Mädchen, aber ich vermute, das spielt bei ihr keine Rolle. Wie heißt du, meine Liebe?«
    »Helena«, flüsterte sie, zu fassungslos, um über das lässige Abtun ihres Äußeren gekränkt zu sein. Vielleicht wäre sie auch sonst nicht verletzt gewesen: Sie wusste, dass sie nicht hübsch war, und es machte ihr nicht besonders viel aus. Sie fragte sich, ob das hier ein Traum war. Ein kühler
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