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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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hatte.
Der Tempel selbst war, als sie ihn erreichte, trostlos, der Marmor kalt, grau und leblos. Sie zögerte einen Moment lang, bevor sie sich von Nestors Rücken schwang. Er war nervös und riss an den Zügeln, als Helena sie an einem Schössling festband.
    Er wieherte, als wollte er ihr sagen, dass immer noch Zeit sei, vor dem Dunkelwerden nach Hause zu gelangen. »Sei nicht albern« , sagte sie laut. Sie hatte sich den ganzen Winter über auf den Ausflug gefreut und würde jetzt nicht aufgeben, obwohl sie sich angesichts der hohen Hänge des Tals ganz klein fühlte. Sie ging mit derselben Sturheit, die Xanthe so oft zur Verzweiflung trieb, auf den Tempel zu.
    Der Tempel musste einst eindrucksvoll gewesen sein. Er stand quer an einem Ende des engen Tals, so dass der Portikus nicht nur auf eine Klippe hinausging, sondern sie sogar beinahe berührte, und war so groß wie nur irgendein Tempel, den Helena je gesehen hatte. Seine Säulen und Innenwände standen noch, obwohl ein Großteil des Daches verschwunden war. Geröll war von der Klippe herabgestürzt und hatte den Zugang zum Vorderportal begraben, doch die Grundmauern des Tempels waren auf allen Seiten stufenförmig angeordnet, so dass es nicht schwer für Helena war, zur Terrasse hinaufzusteigen und zwischen den Säulen hindurchzuschlüpfen. Löcher in den Wänden machten es unnötig, durch die Vordertür hineinzugehen. Helena kroch über herabgestürzte Steine, die ihr fast bis zur Hüfte reichten, und schlüpfte in den Naos.
    Der Boden war mit einer gefährlichen Flut von zerbrochenen Dachziegeln und den Überresten der Balken, die sie getragen hatten, bedeckt. Die marmornen Wände waren nackt. Die Statuen der Friese waren abgestürzt und geborsten; kleinere Stücke weißen Marmors lagen zwischen den Dachziegeln. Neben Helena lag das Stück eines Pferdekopfs, und daneben eine abgebrochene Hand, die immer noch ein Stück Marmorzügel hielt.
Die Statue musste schön gewesen sein, als sie noch ganz gewesen war, und Helena wurde von plötzlicher Traurigkeit übermannt. Wenn Nestor noch einmal gewiehert hätte, wäre sie nach Hause aufgebrochen.
    Er tat es nicht, und so drückte sie die kleinen, aber kräftigen Schultern durch und tastete sich zu einem Loch an der gegenüberliegenden Wand vor. Auf halbem Wege blieb sie stehen, um den kahlen Steinaltar anzusehen. Das Dach darüber war noch intakt und der Marmorboden darunter größtenteils sauber, aber der Sockel, auf dem einst die Statue irgendeines Gottes oder einer Göttin gestanden hatte, war leer.
    Auf der gegenüberliegenden Seite des Naos klaffte ein größeres Loch in der Mauer, und ein Weg war zwischen den herabgestürzten Steinen frei. Als sie sich durch den Schutt hindurchgearbeitet hatte und sehen konnte, was vor ihr lag, blieb sie stehen. Sie war so entzückt, dass sie die Arme um sich schlang. Die Terrasse auf der Rückseite des Tempels war größtenteils frei von zerbrochenem Mauerwerk, und dahinter lag ein Zimmer unter freiem Himmel: Die steilen Klippen am Ende des Tals bildeten die Wände. Das Gras dort war mit dem Fortschreiten des Frühlings schon grün geworden. Unter dem grauen Himmel schien es aus sich heraus zu leuchten. Es verliefen Pfade hindurch, und auf einer Seite waren noch die Hecken eines Gartens zu sehen. Aber vor allem gab es diesen glatten Grasteppich und dahinter die Öffnung einer Höhle in den Klippen.
    Die Höhle war womöglich ein Problem. Helena beäugte sie aufmerksam mehrere Minuten lang; dann kehrte sie um, um Nestor zu holen. Es war nicht einfach, ihn die Stufen des Fundaments hinauf und dann die Terrasse hinter dem Tempel entlang zu führen, aber als er den Grasteppich erreichte, wirkte er ganz zufrieden, und Helena entspannte sich. Die Sonne hatte begonnen, durch die Wolken zu brechen, der geheiligte Ort hinter
dem Tempel wirkte mittlerweile fast einladend, und Nestor hätte sich dem Gras nicht mit solchem Appetit gewidmet, wenn er in der nahen Höhle den Schlupfwinkel eines Berglöwen gerochen hätte.
    Sie nahm ihm die Trense ab und ließ ihn grasen, während sie sich umsah. Je länger sie blieb, desto mehr fühlte sie sich zu Hause. Etwas sehr Verkrampftes in ihrer Brust schien sich zu lösen, langsam abzurollen wie ein Faden von einer Spindel. Als sie länger darüber nachdachte, kam sie allerdings zu dem Schluss, dass die Metapher wohl nicht zutraf. »Dann wäre ich ja ganz durcheinander, so wie Agapes Garn«, murmelte sie bei sich.
    Sie warf zuerst einen Blick in
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