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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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    Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
     
    Die menschlichen Beziehungen im Basar eines Raumfahrtstützpunktes sind naturgemäß flüchtig, ebenso rasch angeknüpft wie abgebrochen. Die meisten Leute sind Durchreisende, und auch ich würde abreisen, wenn ich könnte. Bisher brauchte ich mich nie um Geld zu sorgen, und die plötzliche Erkenntnis, daß es notwendig ist, verwirrt mich. Aber ich werde meinen Vater nicht um Unterstützung bitten, noch habe ich auf Auszahlung meines Erbanteils am Besitz meiner Mutter gedrungen. Ich habe mehr über mich selbst und meine zahlreichen Fehler nachgedacht, als über das Geld. Ich bin einsam gewesen. Dennoch bin ich heute zufriedener, als ich es in meiner Rolle als angesehener Universitätsdozent war, der alles wußte und nichts konnte. Ich beginne erst zu begreifen, wieviel Zeit ich vergeudet habe.
    Ichiri hat darauf verzichtet, mich zu enterben. Er begnügte sich damit, meinen Brief nicht zu beantworten. Ich werde ihm nicht wieder schreiben

ich bin nicht einmal sicher, ob ich ihm eine Erklärung schuldig bin. Ich möchte nur, daß er versucht, mich zu verstehen. Er mag hoffen, daß ich aufgeben und heimkehren werde, damit er so tun kann, als habe er nie von meinem kurzen Flirt mit der Rebellion gewußt, die ihm im höchsten Grade unvernünftig erscheinen muß. Dann wäre die Angelegenheit für keinen von uns beiden mit einem Gesichtsverlust verbunden. Ich habe noch nicht entschieden, denke aber, daß ich stark genug bin, um mich von solchen Rücksichten freizuhalten.
    Wenn ich nicht mehr heimkäme, könnte er allmählich vergessen, daß sein einziger Sohn blondes Haar hat, und er wäre imstande, sich ganz seinen Fantasien zu widmen. Ich kann mich ihnen nicht mehr beugen; sie sind im Laufe der Zeit stärker und zudringlicher und, was schlimmer ist, für andere Leue störender geworden. Gleichwohl kann ich ihn nicht vergessen. Der alte Mann ist mir noch immer lieb, und diese Empfindung geht tiefer als meine vorübergehende Abneigung.
    Ich verbrachte den Abend im Wirtshaus und hielt mich unter Alkohol. Das hilft wenig, weil ich in mich gekehrt bin, wenn ich trinke. Wäre ich betrunkener gewesen, so hätte ich vielleicht den Fantasien meines Vaters glauben und mich als den Sohn eines illegitimen Abkömmlings des alten japanischen Herrscherhauses bezeichnen können. Darauf hätte ich die Heimreise antreten und bis an mein Lebensende fröhlich in einer Welt von Geschichten und Worten leben können, die ihre Bedeutung längst eingebüßt haben. Ich sehe an diesen Zeilen, daß ich noch immer ein wenig betrunken bin.
    Im Wirtshaus lernte ich einen Navigator im Ruhestand kennen, eine Frau. Sie ist beinahe taub und fast blind, hat viele von den Schiffen überlebt, auf denen sie diente. Ihr Haar ist weiß, und der graue Star hat die einst schwarzen Augen entfärbt. Zu viele Flüge haben sie abgenutzt, und die Strahlung hat ihre Hornhäute zerstört. Sie ließen sich operieren, aber nicht die Sehnerven. Trotzdem ist sie von einer Würde, der ihr Zittern und ihre taube Vergeßlichkeit nichts anhaben können. Sie ist überall anzutreffen und doch einzigartig-. Hundert abgemusterte, überlebte Relikte früherer Zeiten suchen allein in diesem Basar ihr Auskommen, aber sie ist die erste, mit der ich länger gesprochen habe.
Sie könnte in eines der Heime gehen, die man für Leute wie sie eingerichtet hat, doch müßte sie in diesem Fall an einem Ort bleiben und sich den Regeln des Hauses unterwerfen, und sie meint, das würde sie umbringen. Sie sagt, sie sei auf der alten Erde geboren; sie sagt es trotzig und mit einem zornigen Ausdruck in den trüben Augen, und sie bietet jedem die Stirn, der daran zweifeln möchte. Vielleicht ist es wahr, soweit es Geist und Haltung betrifft, vielleicht sogar im buchstäblichen Sinne, obwohl man mich gelehrt hat, daß die Erde tot und verlassen
    sei.
    Die alte Frau und andere wie sie verlassen sich auf die Hilfe jüngerer Mitglieder ihrer Gesellschaft, die wissen, daß man später einmal auch für sie sorgen wird. Heute abend sprachen sie und ich so lange miteinander, daß alle anderen längst schlafen gegangen waren, als wir endlich aufbrachen. Ich lasse sie in meinem billigen kleinen Zimmer auf der Couch schlafen, weil ich denke, daß sie mich nicht aus meinem Bett verdrängen will. Sie hat gegeben, nun nimmt sie an; aber sie nimmt nicht in Besitz.
     
    Die violettschwarze Dunkelheit kühlte nach und nach zu Braun ab, als Mischa den ansteigenden Stollen zum
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