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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Schritte in Höhlengängen, die noch keines Menschen Fuß entweiht hatte, erneuerten sie.
    Chris blieb so lange still, daß Mischa dachte, er habe ihr Gespräch vergessen; als er endlich sprach, hätte er es genausogut sein lassen können. »Sie können dich immer noch rufen, wie?«
    Sie unterdrückte eine ärgerliche Aufwallung und sagte nichts.
    Chris schloß die Augen und ließ sich führen. »Ich hätte nicht gedacht, daß Gemmi so lange leben würde. Wirklich nicht.«
    Und wieder hatte Mischa keine Antwort. Die kranke, einfältige Ausstrahlung der Schwester blieb in ihrem Bewußtsein. Gemmis Fluidum verflüchtigte sich langsam, wie ein schlechter Geruch. Sie lebte nur durch andere, im gehemmten Bewußtsein und in den weichen Tiefen des Gemüts, die noch immer von Alraunen und Fabelwesen bevölkert waren. Es war gut, daß sie so wenig Intelligenz besaß; andernfalls wäre sie in den Wahnsinn abgeglitten. Wäre ihr Körper so deformiert gewesen wie ihr Geist, so hätte man sie wahrscheinlich als kleines Kind im tiefen Untergrund ausgesetzt.
    »Sie hat schon lange nicht mehr versucht, mich zu rufen«, sagte Chris. »Ich weiß nicht, wann ich sie zuletzt empfing, aber es ist sehr lange her.«
    »Hör auf damit, Chris!« Mischa hatte ihre eigenen unsichtbaren Abweichungen so lange Zeit geheimgehalten, daß die Abwehr schon automatisch war. Es sorgte sie, daß Chris nicht mehr diese Vorsicht zeigte. Das falsche Wort zur falschen Zeit, und er – oder sie beide – konnte aus dem Zentrum verbannt werden.
    Wenn Mischa die Stadt einmal verließe, was irgendwie zu bewerkstelligen sie entschlossen war, dann sollte es nach ihrem eigenen Willen, ihrem eigenen Plan geschehen. Sie hatte nicht die Absicht, sich wegen einer Fähigkeit, für die sie nicht einmal ein Wort hatte, vertreiben zu lassen. Sie stellte sich die Verbannung in den tiefen Untergrund als eine Art Gefängnishaft vor; ohne die Möglichkeit einer Rückkehr würde der Aufenthalt dort unten seine Schönheit und Faszination verlieren. Und sie wäre doppelt gefangen. Ließe sie sich danach noch einmal nahe der Stadt blicken, so wäre sie vogelfrei, und jeder könnte sie töten; blieb sie im Untergrund und versuchte Gemmis unausweichlichem Ruf zur Rückkehr zu widerstehen, so würde sie wahrscheinlich den Verstand verlieren.
    Der Gedanke an ihre Schwester machte sie schaudern. Gemmi hatte sie oft gerufen, und jedesmal war es wie ein Ruf in den Wahnsinn gewesen. Chris fühlte ihr Zittern und hob den Kopf. »He .. .!«
    Sie konnte sich nicht über seine unzuverlässige Sorge ärgern; zu vertraut waren ihr seine unbewußte Selbstsucht und seine gelegentliche unerwartete Großzügigkeit. »Gemmi saugt mir das Gehirn heraus und leckt an meinen Augen«, flüsterte sie. »Er bringt sie dazu, daß sie mich immer öfter ruft ...«
    »Es wird nicht mehr lange dauern«, murmelte Chris. »Wir verlassen die Erde. Wir werden in die Sphäre übersiedeln.«
    Mischa fühlte sich von überraschten und hoffnungsfrohen Empfindungen überrumpelt. Sie konnte kaum glauben, daß er nach so langer Zeit eine Position gefunden hatte. Wenn das zutraf, hatte sich alles gelohnt, was sie durchgemacht hatten. Seit zwei Jahren hatte Mischa für ihren Bruder und sich gestohlen, um ihren Onkel zu besänftigen, ihre jüngeren Geschwister zu unterstützen und Chris für seine eigene Arbeit zu befreien. Sie hatte angefangen zu verzweifeln, und die Veränderungen in ihrem Bruder hatten das ihre getan, um ihre Befürchtungen zu bestätigen.
    Seine Augenlider zuckten, und er lächelte sein kleines, mißtrauisches Lächeln, das besagte, man müsse ein Geheimnis bis zum rechten Augenblick zu wahren wissen. »Ich werde das Zentrum verlassen. Wie wir besprachen. Wir werden so weit entfernt sein, daß Gemmi uns niemals wird erreichen können... Du willst doch mitkommen?«
    Mischa rüstete sich mit Argwohn. »Wann?«
    »Einer der Schiffseigner hat mein Zeug gesehen ... meine neuen Sachen ... Sein Schiff ist das letzte, das hinausgeht ...«
    »Wirklich großartig, Chris.« Sie biß die Zähne zusammen und hielt Tränen zurück. Das letzte Schiff war längst abgegangen, kurz bevor der erste Sandsturm des Winterhalbjahrs losgebrochen war. Chris' eigene Gedanken verrieten, daß er das Gesagte für wahr hielt, aber Mischa vermochte nicht zu sagen, ob diese Wahrheit der Realität entsprach oder lediglich ein Überbleibsel ihrer früheren gemeinsamen Träume war. Nun, es spielte kaum eine Rolle.
    Sie verlagerte ihren
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