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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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ihrem Durcheinander und dem neuen Gemälde, ohne sich noch einmal umzusehen. Chris blieb tief und traumleer hinter ihr zurück. Die momentane Hoffnung, die er in ihr geweckt hatte, war zerbrochen und bitter, und die Zerstörung ging tiefer, weil er sie mit ihren verrückten Kindheitsträumen so allein gelassen hatte. Sie fühlte sich jetzt viel älter, und Chris ... sie konnte sich beinahe an seiner Stelle sehen, wie sie den Tag anfing, nicht stark genug, um ihrem Onkel zu trotzen.
    Der Radialstollen, durch den sie ging, endete auf der Beta-Spirale, die sich an der Innenwand der unterirdischen Stadt empor-schraubte. Unten, oben und zu beiden Seiten erstreckte sich die riesige Kaverne des Zentrums.
    Leuchtröhren breiteten sich wie die Lamellen eines Pilzes über die Decke aus. Der erste Eindruck war unübersichtlich, ein Gewirr unregelmäßig verlaufender aufsteigender Gesimse, die die Innenwände wie ein mangelhaft ausgeführtes Gewinde überzogen, da und dort belebt von Farbe und Bewegung. Mischa kannte die Stadt gut genug, um die zugrunde liegende Ordnung zu sehen: fünf parallel verlaufende Rampenspiralen, die mit mäßiger Steigung die Wände hinaufführten und Zugang zu den übereinander aus den Wänden gehöhlten Wohnungen boten. Die Spiralen waren von jahrzehntelanger Überbauung, Vernachlässigung und ständigem Gebrauch beinahe ausgelöscht. Die Wände der Kaverne, durchlöchert von den Aushöhlungen der Wohnquartiere und überall, wo natürliche Vorsprünge und Felsbänder Raum boten, mit aufeinandergetürmten, würfelförmigen Behausungen besetzt, sahen wie zerschlagene Bienenwaben aus. Der Steinpalast auf der anderen Seite, etwas unter Mischa und zu ihrer Linken, war ein leerer Flecken nackten grauen Gesteins inmitten der chaotischen Unordnung. Seine beiden Eingänge waren für den Rest der Stadt geschlossen; der sogenannte Kreis, ein breiter, sandiger Weg, der vor dem Palast vorbeiführte und die Peripherie der ganzen Höhle begleitete, war beinahe menschenleer.
    Weiter rechts erhoben sich die massigen Felsbastionen der Drei Hügel, wie die Wände des Zentrums von Wohnungen ausgehöhlt und durchlöchert. Ihr Inneres war ein Labyrinth von Gängen, Stollen, Treppen und Wohnhöhlen, wahrscheinlich der älteste Teil der unterirdischen Stadt. Ganz rechts, am anderen Ende des Zentrums, waren die balkonartig vorspringenden grauen Runderker zu sehen, hinter denen die Wohnungen der reichen Familien in ihrem eigenen, unbeengten Bezirk lagen. Unter ihr, im Kreis und in den Talmulden zwischen den Drei Hügeln, gingen vereinzelt Bewohner ihren Geschäften nach. Die Ausdünstungen und der Geruch von Menschheit sättigten die Luft und machten sie schwer; nach jeder längeren Abwesenheit mußte Mischa sich von neuem daran gewöhnen. Die Ereignisse der letzten Tage bedrängten sie, und sie wurde sich unvermittelt einer körperlichen wie psychischen Erschöpfung bewußt. Statt auf dem Weg zu bleiben, nahm sie eine Abkürzung über die stillschweigend als Privatbesitz betrachteten Balkone und Verbindungstreppen kleiner Nachbarschaften, verfolgt von einigen zornigen Rufen und schlechtgezielten Würfen mit Abfällen, die sie verfehlten.
    Der schnellste Weg zu Mischas Behausung führte um den Kreis, vorbei am Steinpalast. Die meisten der zahlreichen Schänken waren leer und still; sie wurden vorwiegend von Schiffsmannschaften besucht, und die Schiffe waren alle für den Winter abgereist. Die ›Gesellschafterinnen‹, wie die Dirnen sich nannten, räkelten sich träge in ihrer herausgeputzten Nacktheit, unterhielten sich und frönten dem Glücksspiel, weil niemand da war, für den die Schaustellung ihrer körperlichen Reize lohnte. In einem offenen Vergnügungslokal wehten farbige Lichtvorhänge ziellos zwischen leeren Tischen, scheinbar belebt und einsam, als suchten sie nach Gesellschaft.
    Selbst die Bettler waren von der allgemeinen Stimmung träger Untätigkeit angesteckt und hatten einstweilen ihre jammervollen Seufzer und ihre vorgespielten Schmerzen vergessen. Sie ließen Mischa unbeachtet und wurden von ihr ignoriert. Mischa fand diese Menschen mit ihren ausgestreckten Händen, den bleichen Körpern und künstlich geförderten Verunstaltungen abstoßend. Sie bettelten nicht für sich selbst, sondern für die Leute, die sie besaßen, sie ernährten, weiter verunstalteten, wenn sie zu gesund wurden, und schlugen, wenn sie keinen Gewinn abwarfen. Mischa hätte sie bemitleiden können, wäre ihr jemals einer von ihnen
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