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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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nicht zurückkommen werde.« Kevin blickte sie verständnislos an. »Dav sagt …«
    »Dav soll sich die Zehennägel abkauen«, sagte Mischa. Verletzt von der Beleidigung, verstummte Kevin. Er folgte ihr noch ein paar Minuten, dann räusperte er sich und sagte zögernd: »Was du auch vorhast, ich glaube nicht, daß es klappen wird.«
    »Dann bis später.«
    Kevin, der offenbar erwartet hatte, daß sie die Verfolgung aufgeben würde, blieb zurück. Mischa ging unbeirrt weiter, ein kleines Lächeln um den Mund und mit einer Erleichterung, die verging, als er ihr nachrief. »Mischa ...«
    »Was?«
    »Ich soll dir noch was von Dav sagen.«
    »Was?«
    »Daß er dich vermißt.«
    Diesmal war die Beengung in ihrer Kehle geringer als ihr Zorn.
    »Das ist sein Pech«, sagte sie.
    Dav war ein guter Freund gewesen, ein angenehmer Gefährte, aber er hatte ihre Freundschaft mehr als einmal zu oft ausgenutzt. Mischa wollte nichts mehr mit ihm zu schaffen haben. Zu viele Leute versuchten ihr zu sagen, was sie zu tun und zu lassen habe. Sie hatte Dav lange vermißt, aber das war vorbei.
    Sie ließ Kevin stehen und blickte nicht zurück.
     
    Das ohne Bewachung durch Teile der Stadt spazierende Kind aus dem Palast war für Mischa eine Herausforderung – aber eine, die sie nicht annahm. Die Autorität dieser Herausforderung ging vom Steinpalast aus, wo Blaisse, der Herr der Stadt, residierte. Blaisse besaß weder die uneingeschränkte Macht im Zentrum, noch neigte er dazu, seinen Willen so exzessiv durchzusetzen, wie sein Vater es getan haben sollte, aber das Potential war da. Blaisse kontrollierte alle Verbindungen zur Außenwelt, und es hieß, das er über gewaltige Waffen verfüge. Offenbar glaubten auch die reichen Familien daran, denn sie versuchten niemals, das prekäre Machtgleichgewicht zu ihren Gunsten zu verändern. Diese Familien waren ihrerseits unleugbar mächtig, denn sie kontrollierten das Rechtswesen, die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser, die Beschaffung von Rohstoffen von der Außenwelt und sogar die Frischluftzufuhr. Und natürlich die Stromversorgung: das Licht.
    Als das Kind die Wohnquartiere der großen Familien erreichte, wurde es ohne Umstände durch das Zugangstor in den Bezirk eingelassen, eine Höflichkeit, die wenigen anderen zuteil wurde. Nachdem es seine Aufträge überbracht hatte, bummelte es die Auslagen der besseren Geschäfte entlang. Dort gab es feingearbeitete Kleidung jeder Art, Teig- und Backwaren aus aromatisierten Algen, Fleisch aus gepreßten Tafeln kultivierter Eiweißzellen und andere Köstlichkeiten mehr. Zuletzt besuchte es die kleinen Luxusläden für Importwaren, die im Zentrum nicht hergestellt oder angebaut werden konnten: Früchte, Gemüse, tierisches Fleisch, Pelzwaren, Stoffe aus Naturfasern, bestimmte Drogen. Die Preise waren bereits beträchtlich gestiegen, und bis zum Frühling würden sie noch viel höher liegen. Das Kind stibitzte ungeniert ausgewählte Leckerbissen, ohne auf die Wachvögel zu achten, die bei jedem anderen Ladendieb losgelassen worden wären, um ihm oder ihr die Augen auszuhacken.
    Unbehelligt und gemieden, kehrte das Kind zum Steinpalast zurück, wo es seine Verantwortlichkeit aufgab und wieder zum verwöhnten und verzärtelten Luxusgeschöpf wurde, bedient und umsorgt von Sklaven. Auch Mischa hütete sich, ihm zu nahe-zutreten. Sie blickte die glatte, graue Steinfassade hinauf, in deren Umkreis Wohnnischen ausgeräumt und gesprengt worden waren, um dem Palast und seinen Bewohnern die Zurückgezogenheit zu gewährleisten, die sie beanspruchten. Mischa empfand wegen der Zerstörung keine Feindseligkeit gegen Blaisse; es war lange vor seiner und Mischas Geburt geschehen.
    Als das Kind im Palast verschwunden war, lächelte Mischa leise in sich hinein und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.
     
    Aus dem Tagebuch des Jan Hikaru:
     
    Meine erblindete Freundin erzählt Geschichten von größerer oder geringerer Glaubwürdigkeit, und die Worte entströmen ihr wie Poesie. Der blinde Dichter: eine so altehrwürdige Rolle, daß sie zum Archetyp geworden ist: Homer, Miriamne ... und meine Freundin. Ich höre ihr zu und verbringe jeden Tag Stunden im Gespräch mit ihr.
    Auch andere kommen zu ihr: Kinder, Besatzungsmitglieder und sogar Kapitäne von Schiffen, die Auskunft über dieses oder jenes suchen und ihr von Schiffen und Orten erzählen, deren Namen mir bekannt sind, die ich aber nie gesehen habe. Sie fragt jeden nach dem Woher und Wohin, lächelt
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