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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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begegnet, der sich gegen seinen Herrn aufgelehnt oder einen Fluchtversuch unternommen hätte. Für eine gedankenlose Hinnahme der Erniedrigung aber konnte sie kein Mitgefühl aufbringen.
    Beim Anblick der Fassade eines Vergnügungslokals blieb sie stehen. Sie nahm diesen Weg nicht oft und hatte die Fassadenmalerei noch nicht gesehen. Die farbigen Wirbel schienen sie einzusaugen und im Verein mit der monoton an- und abschwellenden Musik aus dem Inneren ihre Selbstbeherrschung zu untergraben, was zweifellos beabsichtigt war. Ein paar Gesellschafter, Männer und Frauen, unterbrachen ihre Spiele und Unterhaltungen und blickten neugierig zu Mischa herüber. Sie näherte sich zögernd der Fassade, wie gegen ihren Willen angezogen, strich mit den Fingerspitzen über die Farbe, während der Gedanke an Chris' vergeudetes Talent ihr die Kehle zusammen-schnürte. Wenn sie diese seine Arbeit früher gesehen hätte, so hätte sie seinen Schmerz verstanden, hätte vielleicht zu ihm durchdringen können, ehe er verloren war. Sie riß sich von der bemalten Wand los, als wäre sie ein Teil von ihr, stand noch einen Moment lang unschlüssig, machte kehrt und entfloh. Hinter ihr klang mehrstimmiges Gelächter auf.
     

2
    Mischa fuhr aus unruhigem Schlaf auf, schwitzend und verwirrt von einem Alptraum. Sie spürte ein Bedürfnis, zu sprechen oder sich zu bewegen, um seinen Bann zu brechen, war aber unfähig dazu. Ihr Traum war, daß Gemmi wieder in ihr Bewußtsein eingedrungen war, während sie geschlafen hatte, und daß sie sich so tief darin eingenistet hatte, daß sie nie wieder daraus entfernt werden konnte. Nun war Mischa wach in ihrer Nische, und Gemmi war fort, aber es gab keine Garantie, daß diese Realität nicht ein weiterer Traum war, aus dem Gemmi sie verfolgen konnte. Der Glaube daran konnte einen verrückt machen. Befreit von dem Alptraum, wälzte sie sich auf den Bauch und legte den Kopf auf die Unterarme. Das Ereignis konnte sich wiederholen, im Traum oder in der Wirklichkeit, solange sie im Zentrum blieb und solange Gemmi lebte. Vielleicht würde sie sterben, aber darauf konnte Mischa nicht zählen. Sie konnte sich nur weiter zur Wehr setzen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und kehrten immer wieder zu demselben Satz zurück: Wir müssen weg von hier.
    Chris konnte nicht mehr helfen, obwohl ein Entkommen aus dieser Lage wichtiger denn je war. Mischa wußte, daß niemand im Zentrum ihm helfen konnte, nicht einmal die Heiler; wenn er eine Überlebenschance hatte, dann war sie in der Sphäre, der größeren, von der Erde ausgegangenen Zivilisation.
    Als kleines Kind war Mischa von ihrem Bruder abhängig gewesen. Jetzt hing sein Leben von ihr ab.
    Ihre Zeit gehörte einstweilen ihr selbst, bis sie sich wieder mit der Frage beschäftigen mußte, woher sie das Geld beschaffen sollte, das von ihr und Chris verlangt wurde. Seit dem Tode ihrer Eltern war der Onkel immer geldgieriger geworden; Mischa befürchtete, er werde schließlich ihre ganze Zeit beanspruchen und darüber hinaus Forderungen an Chris stellen. Da er Gemmi in der Hand hatte, konnte er das tun; und er würde es tun, sobald er entdeckte, daß sie den Anteil ihres Bruders mitbeschaffte.
    Sie setzte sich auf und zog die Decke von der Schüssel mit Lichtzellen. Die bräunliche Dunkelheit verblaßte im blauen Schein. Die Zellen waren matt. Mischa vergaß häufig, sie zu ernähren, und noch häufiger war sie nicht in ihrer Nische, wenn sie hungrig wurden. Sie streute pulverisierte Nahrung über die unebene Oberfläche, und das Licht in der Glasschüssel wurde ein wenig heller. Mischa ließ sich auf das ungemachte Bett zurückfallen und blickte zur Decke auf. Ihre kleine Höhle war beinahe ganz im Naturzustand. Auf einer Seite war ihr Lager, auf der anderen eine große hölzerne Truhe, die ihre wenigen Habseligkeiten enthielt. Bis auf das Licht war der Rest der Kammer leer. Ein schmaler, natürlicher Spalt in der Rückwand führte tiefer in den Berg hinein, zu einer größeren Höhle, in der es einen Tümpel mit klarem Wasser gab.
    Selbst ihr Heim begann sie zu bedrücken, als käme das Gestein auf sie herab. Ihre Träume vom Verlassen der Erde waren zerstoben. Sie versuchte sie wiederherzustellen, um etwas zu haben, woran sie Halt finden könnte, aber sie waren Nebel und Staub. Chris war in seinem traumlosen Schlaf gefangen und Mischa durch ihre Verbindung zu Gemmi. Vielleicht gab es wirklich keinen Ausweg.
    Als sie es in der engen Kammer nicht länger aushielt,
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