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Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde
Autoren: Vonda N. McIntyre
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Zentrum folgte. Sie war müde, durstig und hungrig. Sie hatte mehrere Tage im tiefen Untergrund zugebracht, hatte neue Wege begangen und erforscht, geleitet von der Intuition und der Erfahrung anderer, ähnlicher Ausflüge. Doch nun war es Zeit, zur Stadt zurückzukehren.
    Sie wäre gern länger ausgeblieben und hätte die Grenzen ihres Bereichs weiter ausgedehnt. Die seltsamsten Erlebnisse und Anblicke boten sich im tiefsten Untergrund der Erde, wo natürliche Kräfte in Äonen eine vielgestaltige Höhlenwelt geschaffen hatten und wo man ganz selten auf Überreste menschlicher Bauwerke stoßen konnte, gewaltig in ihren Ausmaßen, aber von ihren Erbauern verlassen, als die in ihnen lagernden Kriegswaffen nicht mehr benötigt worden waren.
    Mischa hörte ein Geräusch und blieb stehen. Das Geräusch wiederholte sich, ein leises Kratzen von Metall am Fels. Ein paar Gesteinssplitter lösten sich von der Stollenwand und fielen zu Boden. Ihr Blick suchte die Wand in Schulterhöhe ab, und sie lachte. Eine kleine Maschine verhielt in der Öffnung eines kleinen neuen Loches, wo sie die Luft zu schnuppern schien. Während Mischa zusah, schied die Antennenmaus ein Kabel aus und zog sich in die Dunkelheit zurück, einen neuen Anschluß für das Kommunikationsnetz hinter sich lassend. So weit vom Zentrum entfernt, gab es niemanden, der von dem Anschluß Gebrauch machte, aber die Mäuse arbeiteten unermüdlich weiter, angeleitet von irgendeinem uralten, längst in Vergessenheit geratenen Programm.
    Mischa setzte ihren Aufstieg fort; der Stollen war ein natürlicher Höhlengang, der zu einem langen, gleichmäßigen Tunnel ausgehauen und begradigt war.
    In der Ferne zeigte sich ein Lichtschein, der sich bei ihrer Annäherung verstärkte: Leuchtröhren, die ihr zeigten, daß sie die Außenbezirke des Zentrums erreicht hatte. Wenige andere Leute wagten sich über die Grenzen der öffentlichen Beleuchtung hinaus, denn der Untergrund galt als gefährlich. Einige der Ängste konnte Mischa verstehen. Vor einer Stunde hatte sie für Augenblicke einen Höhlenpanther gesehen: bernsteinfarbene Lichter, glattes, schwarzes Fell, lange Schnurrbarthaare. Ihre leise Annäherung hatte das Tier erschreckt, und es hatte die Flucht ergriffen. Gefürchteter aber waren die Geächteten, die ausgestoßenen Bewohner des tiefen Untergrunds. Leute, die an ihre Existenz glaubten, gebrauchten sie, um ungehorsamen Kindern Angst einzujagen. Mischa wußte, daß diese Untergrundleute existierten, wenn sie ihnen auch nie begegnet war. Sie hatte ihre aufgemalten Zeichen und Symbole an den Höhlenwänden gesehen und gelernt, ihre Warnungen zu befolgen, fand aber keinen Grund zur Furcht. Die Geächteten waren noch scheuer als die Panther.
    Mischa erreichte den kleinen, runden Raum, von dem das Licht ausging: eine Brunnenzelle, die einzige Quelle guten Wassers in diesem Randbereich der Stadt. Kondensiertes Wasser glänzte auf dem Felsgestein, und die Luft roch nach dem kühlen, feuchten Kalkstein. In der Mitte der runden Kammer erhob sich der Brunnenrand einige Handbreit vom Boden. Auf diesem breiten Brunnenrand lag eine große, in Purpur und Schwarz gekleidete Gestalt. Ihr nahezu weißes Haar lag ausgebreitet über dem behauenen Stein. Mischa zögerte, bevor sie nähertrat. Sie setzte sich auf den Rand und streckte die Hand aus, hielt jedoch inne, bevor sie die Schulter berührte, als sie das grüne Aufblitzen der Augen sah. Ihr Bruder warf ihr einen kurzen, warnenden Blick zu, dann starrte er wieder zur Leuchtröhre auf, als hätte er sie bereits vergessen.
    »He, Chris.« Sie verstand nicht, warum er nicht im Zentrum war. Zu Hause ließ er sich niemals blicken; seit zwei Jahren nicht mehr.
    »Verschwinde.«
    Seine Stimme war dünn und hatte einen winselnden Klang, der nie darin gewesen war. Er ließ eine Hand ins Wasser hängen, und das bis zur Schulter durchnäßte Hemd klebte an seinem mageren Arm. Er war viel dünner geworden, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte.
    »Was ist los?«
    »Keine Träume«, sagte er, den Tränen nahe.
    »Komm schon!«
    »Laß mich in Ruhe!« Er riß die im Wasser hängende Hand hoch, daß funkelnde Tropfen über den hellen Sand und das schwarze Wasser spritzten, und bedeckte sein Gesicht mit dem Unterarm. Seine Hand war weiß wie Pergament, von bläulichen Adern durchzogen und wie durchscheinend. Durch das Gurgeln und Plätschern des Quells konnte Mischa sein langsames, stoßweises Atmen hören. Sie fragte sich, ob er krank sei, und in
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