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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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Papier, das einen Bericht über den Trupp Männer, den er befehligte, hätte enthalten sollen. Er hatte die ersten paar Zeilen des Berichts ausradiert und darunter den Beginn eines Briefs an seinen Vater niedergeschrieben. Er lautete: »Vater, ich muss meine Handlungsweise erklären«, und hörte dann auf. Costis konnte seine Handlungsweise nicht erklären. Er rieb sich das Gesicht mit den Händen und versuchte erneut, seine aufgeregten Gedanken zu kühlen Worten und geordneten Sätzen zu bändigen.
    Er ließ den Blick über das Durcheinander in seinem Quartier schweifen. Seine kleine Kleidertruhe war auf den Boden ausgeschüttet worden. Das Tablett, das darauf gestanden hatte, um seine Manschettenknöpfe und Gewandnadeln aufzunehmen, war neben das Bett geworfen worden. Die Manschettenknöpfe und Ersatzknöpfe lagen überall verstreut; auch das kleine Bild seines Gottes war zu Boden gefallen. Seine Bücher waren verschwunden. Er hatte drei gehabt. Das Gleiche galt, wie er vermutete, für seinen Geldbeutel, der alles Geld enthalten hatte, das er in seinem Zimmer aufbewahrte. Es war schade darum. Er hätte das Geld seinem Freund Aristogiton gegeben. Sein Schwert war aus seiner Wandhalterung verschwunden. Auch das hätte er Aris gegeben.
    Die beiden Soldaten, die ihn in festem Griff vom Übungsplatz zurückgeführt hatten, hatten jeden scharfen Gegenstand aus dem Raum entfernt. Sie waren Veteranen, die einen Großteil ihres Lebens in der Garde gedient hatten. Sie hatten seine kleine Truhe durchsucht und die dünne Matratze und das Laken vom schmalen Bettgestell gezerrt. Einer hatte Costis Schwert von der Wand genommen und sein Messer von der Fensterbank aufgehoben, während der andere seine Papiere eingesammelt und in der Faust zusammengeknüllt hatte. Ohne ihn noch einmal anzusehen waren sie gegangen. Costis hatte seinen dreibeinigen Schemel wieder aufgerichtet. Sie hatten seine Mantelspangen dagelassen, die schlichte für alle Tage und die verzierte mit der Bernsteinperle. Das hatte ihn etwas überrascht. Seine gute Mantelspange war eine Fibel mit vier Zoll langem Schaft, der so dick wie ein Getreidehalm war. Sie wäre so wirkungsvoll wie ein Schwert gewesen, wenn Costis sich entschlossen hätte, sie zu gebrauchen. Sogar die kleinere Mantelspange hätte ausgereicht: Zwei Zoll an der richtigen Stelle waren alles, was nötig war.
    Während Costis ohne echten Antrieb über die Möglichkeiten nachgedacht hatte, die die Fibeln boten, war der Vorhang vor seiner Tür beiseitegeschlagen worden. Einer der Soldaten war zurückgekehrt, hatte mit forschen Fußtritten das Gewirr auf dem Boden durchforstet und bald die Gewandspangen gefunden. Nachdem er sie aufgehoben hatte, hatte er rasch den Boden noch einmal abgesucht, um festzustellen, ob dort noch weitere lagen. Er hatte die Sandalenriemen gesehen und an sich genommen. Er hatte Costis einmal gemustert und verächtlich den Kopf geschüttelt, als er gegangen war.
     
    Costis sah wieder den Brief vor sich an. Dies war fast das einzige Papier, das man ihm gelassen hatte. Er hätte es nicht verschwenden
sollen, aber er wusste nicht, wie er seinem Vater seine Handlungsweise erklären sollte, wenn er sie sich nicht einmal selbst erklären konnte. Er hatte einen geheiligten Eid gebrochen und binnen eines Augenblicks seine Laufbahn, sein Leben und vielleicht seine Familie zerstört. Es war unnatürlich, auf Ereignisse zurückzublicken und nicht glauben zu können, dass das, woran man sich erinnerte, tatsächlich geschehen war.
     
    Es war Nachmittag. Er hatte keine Fortschritte mit seinem Brief gemacht, seit die Sonne am Morgen schräg durch das enge Fenster gefallen war und den kleinen Raum mit Licht erfüllt hatte. Die Sonne war über das Dach der Baracken aufgestiegen, und das Zimmer wurde langsam halbdunkel, da es nur noch indirekt vom Sonnenlicht erhellt wurde, das auf den engen Hof zwischen den Baracken schien. Costis wartete auf die Königin. Sie hatte den Palast zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit verlassen und war auf die Jagd gegangen. Sie würde in einer der Jagdhütten zu Mittag essen und irgendwann am Nachmittag zurückkehren.
    Costis stand von seinem Schemel auf und ging dann zum hundertsten, ja tausendsten Mal im Zimmer auf und ab. Er würde verurteilt werden, wenn sie zurückkehrte, höchstwahrscheinlich zum Tode. Es drohte aber noch Schlimmeres als der Tod, wenn sie den Verdacht hatte, dass seine Tat auf eine Verschwörung zurückging oder dass auch nur ein Mitglied
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