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Der Gebieter

Der Gebieter

Titel: Der Gebieter
Autoren: Megan Whalen Turner
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seiner Familie im Voraus davon gewusst hatte. Wenn es dazu kam, würde seine Familie ihren Hof bei Pomea im Gede-Tal verlassen müssen. Jedes einzelne Familienmitglied, nicht nur sein Vater und seine Schwester, sondern Onkel, Tanten und Cousins. Ihr Besitz würde an die Krone fallen, und sie würden nicht länger zur Schicht der Landbesitzer zählen, sondern Okloi sein  – Krämer, wenn sie Glück hatten, Bettler, wenn sie keines hatten.
    Natürlich hatte noch nicht einmal er selbst im Voraus gewusst,
was geschehen würde. Er hätte nie damit gerechnet, dass er ein Unheil zur wahren Katastrophe würde verschlimmern können, aber die Wahrheit spielte nun kaum noch eine Rolle. Costis dachte an die Papiere, die man ihm abgenommen hatte, und versuchte, sich zu erinnern, was genau darin stand und als geplanter Verrat missdeutet werden konnte. Der Archivsekretär konnte schon bei einem einzigen Wort Verrat wittern. Nur eine Andeutung eines Plans, und Costis würde am Morgen nicht gehängt, sondern gefoltert werden. Er wusste, dass die Wahrheit, die ohnehin keine große Rolle spielte, gar keine mehr spielen würde, wenn die Folter erst begonnen hatte.
     
    Er trat ans Fenster und sah auf die Schatten hinaus, die über die Baracken gegenüber von ihm fielen. Bald würden die Trompetensignale erklingen, um die Mitte des Nachmittags zu verkünden; der Wachwechsel würde stattfinden. Er hätte jetzt eigentlich auf den Palastmauern sein sollen. Hinter sich hörte er die Ringe des Vorhangs auf der Stange über der Tür beiseitegleiten. Er drehte sich um, um den Männern ins Gesicht zu sehen, die ihn in den Palast führen würden.
    Es waren keine Gardisten. In der Tür stand allein der König. Der von Priestern und Priesterinnen gesalbte Herrscher aller Lande von Attolia, der offizielle Vater des Volkes, der Herr der Barone, die ihm einer nach dem anderen Gehorsam geschworen hatten, der unbestrittene, unangefochtene und absolute Monarch des Landes. Der geschwollene Bluterguss neben seinem Mund passte farblich hervorragend zu der aufwändigen purpurnen Stickerei an seinem Kragen.
    »Die meisten Leute würden in deiner Lage auf die Knie fallen« , sagte der König, und Costis, der ihn wie gelähmt angestarrt hatte, fiel verspätet auf die Knie. Er hätte sich verneigen sollen, aber er konnte den Blick nicht vom Gesicht des Königs losreißen.
Erst der stechende Antwortblick des Königs durchbrach seine Erstarrung, und er senkte den Kopf.
    Der König trat an den Tisch, und aus dem Augenwinkel konnte Costis den Krug sehen, den er in der Hand trug, einen Finger durch den Henkel geschoben, während er mit den übrigen zwei Becher festhielt. Der König hob sie auf den Tisch und setzte den Krug zuerst ab. Mit einer raschen Handbewegung wirbelte er einen der Becher in die Luft und stellte den anderen vorsichtig auf die Holzplatte. Er fing den Becher in der Luft auf, als er zu fallen begann, und stellte ihn behutsam neben sein Gegenstück. Er bewegte sich lässig, als sei ihm dies bisschen Jonglieren zur zweiten Natur geworden. Und doch war es eine zur Anmut verfeinerte Notwendigkeit, denn der König hatte nur eine Hand.
    Costis schloss beschämt die Augen. All die albtraumhaften und unwirklichen Geschehnisse des Tages waren schrecklich, schrecklich wahr, die Verletzung neben dem Mund des Königs unverkennbar und unbestreitbar: Jeder Knöchel von Costis’ Faust war dort unauslöschlich abgebildet.
    Eugenides sagte: »Du hast vor kaum zwei Monaten geschworen, mich und meinen Thron mit deinem Leben zu verteidigen   – nicht wahr?«
    Er war wie eine Lumpenpuppe umgefallen.
    »Ja.«
    »Ist das hier irgendein attolisches Ritual, von dem ich nichts weiß? Hätte ich mich verteidigen sollen?« Er hatte nur eine Hand; er hätte sich gar nicht gegen einen Mann verteidigen können, der sowohl größer als auch schwerer war als er   – nicht gegen einen unversehrten Mann.
    »Ich bitte Euch um Vergebung.«
    Die Worte waren die eines Edelmanns. Sie klangen unter diesen Umständen selbst in Costis’ eigenen Ohren seltsam, und der
König lachte kurz freudlos auf. »Meine Vergebung hat nichts mit höflichen Artigkeiten zu tun, Costis. Meine Vergebung ist mittlerweile eine sehr handfeste Angelegenheit. Eine königliche Begnadigung würde dir das Leben retten.«
    Eine königliche Begnadigung war unmöglich. »Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut«, sagte Costis, unfähig, das Unerklärliche zu erklären. »Ich habe noch nie und würde auch
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