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Probeweise: Die Kurzgeschichte zum Roman »Sommerfalle« (German Edition)

Probeweise: Die Kurzgeschichte zum Roman »Sommerfalle« (German Edition)

Titel: Probeweise: Die Kurzgeschichte zum Roman »Sommerfalle« (German Edition)
Autoren: Debra Chapoton
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Mehr als zwei Jahre lag es schon zurück, seit Eddie die Steinhütte entdeckt hatte. Und noch immer stand sie verlassen da. Er hielt inne, um zu lauschen, bevor er von dem belebten Waldweg abbog. Es wäre ungünstig gewesen, wenn ausgerechnet heute ein paar Wanderer, die den Frühling genossen, ihn bemerkt hätten. Er konnte nicht riskieren, dass jemand zufällig auf sein Versteck stieß, gerade jetzt, da er so nah dran war … so nah an der Verwirklichung eines Plans, mit dem er selbstverständlich nichts Böses im Schilde führte.
    Der würzige Erdgeruch stieg ihm vom frisch aufgewühlten Waldboden in die Nase. Ein Hirsch hatte dort Eicheln ausgescharrt.
    Ein Rascheln hinter ihm, er hielt den Atem an. Am meisten Angst hatte er davor, von einem Fremden angesprochen zu werden. Es raschelte weiter, und er zog sich tiefer in den Wald zurück. Entfernte sich einige Schritte von dem Baum mit dem großen Gewirr aus Tannenzweigen, Nadeln, Stöcken und Eichenlaub weg, das wie Nest aussah. Diese Tanne war seine Wegmarkierung. Die Umgebung des sich durch den Wald schlängelnden Wegs war ansonsten ziemlich eintönig, und ohne das Nest hätte er wahrscheinlich gar nicht mehr zu der steinernen Hütte zurückgefunden.
    Er erinnerte sich an diesen schrecklichen Tag, der doch zugleich ein Glückstag gewesen war. Seine Cousins hatten sich gegen ihn verbündet. Aus einem simplen Kartenspiel hatten sie einen gemeinen Wettbewerb mit Schlägen und Hieben gemacht. Sogar ihr Hund schien die Quälerei zu genießen, denn er bellte und sprang ohne Unterlass umher.
    Eddie war schließlich geflohen, auch wenn das bedeutete, dass seine Cousins der Tante und Eddies Mutter noch mehr Lügen über ihn auftischen würden, wie sie es auch sonst immer taten. Hatte es je eine Zeit gegeben, in der sie ihm nicht die Schuld für jede Kleinigkeit in die Schuhe geschoben hatten? An jenem Tag war er bis zur Erschöpfung immer weiter gelaufen. Irgendwann erreichte er die Wegmarkierung »2 Meilen« auf dem Waldweg und überlegte, dass es wohl am besten wäre, umzukehren. Er hatte schon den halben Rückweg hinter sich, als er eine Weißwedelhirschkuh mit ihrem Kalb entdeckte. Spontan verließ er den Pfad und folgte den hüpfenden weißen Flecken.
    Damals hatte er sie entdeckt. Die steinerne Schutzhütte war klein, kleiner als sein Kinderzimmer. Abgesehen von einer engen Lichtung rundherum war hier alles zugewachsen. An diesem einsamen Sommertag vor zweieinhalb Jahren, ein paar Wochen vor Beginn der zehnten Klasse, hatte er die Hütte für sich in Besitz genommen. Für sich.
    Und für Becky.

    Seit mindestens zehn Minuten stand er jetzt schon so still wie eine Statue. Das Rascheln im Laub musste ein Eichhörnchen verursacht haben. Er hob seinen Rucksack und verließ guten Mutes den Weg, wobei er darauf achtete, auf dem feuchten Boden möglichst wenig Spuren zu hinterlassen. Als er unter der alten Tanne vorbeiging, warf er noch einmal einen Blick auf das Nest. Der Zweig, auf dem es lag, zeigte wie ein Arm die Richtung zu seinem Geheimversteck an.
    »Du wirst es hier lieben, Becky«, flüsterte er zu sich selbst. »Es wird dein Geschenk zum Schulabschluss. Unser Geschenk.« Er malte sich aus, wie ein Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht erscheinen würde, wenn sie die Steinhütte zum ersten Mal sah, wie sie die Haare über die Schultern zurückwerfen und lachen würde, wie sie ihm um den Hals fallen und …
    Allerdings hatte er seit der sechsten Klasse nicht mehr mit ihr gesprochen. Wie sollte er da die richtigen Worte finden? Er müsste einüben, was er sagen sollte. Er würde sich alles aufschreiben und es auswendig lernen.
    Schließlich erreichte er die Lichtung. Er hatte schon einmal versucht, dort Gemüse anzubauen, aber der Boden war zu hart, und der Löffel seiner Tante und das Tütchen Samen, die er letztes Jahr gestohlen hatte, konnten gegen die Wurzeln und Steine nichts ausrichten. »Eddie«, hatte die Tante im Beisein seiner Mutter zu ihm gesagt, »weißt du, wo mein Vorlegelöffel ist? Deine Cousins sagen, sie hätten gesehen, wie du ihn mit nach draußen genommen hast.«
    »Nein, Ma’am«, log er.
    Seine Mutter setzte ihren Drink ab. »Lüg deine Tante nicht an!«, lallte sie. »Du gibst ihn sofort zurück.«
    Eddie war inzwischen größer als seine Mutter, doch er duckte sich, senkte den Blick und zog den Löffel aus der Tasche an der Vorderseite seines alten blauen Sweatshirts. Während er ihr das Diebesgut hinhielt, starrte er auf den
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