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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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sein Blick bat sie weiterzusprechen.
    »Hier nicht«, sagte Alice. »Lass uns irgendwohin fahren.«
    Mattia stand auf und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen, so wie er es immer getan hatte. Sie machten sich auf den Weg. Es war so schwierig, gleichzeitig zu sprechen und nachzudenken, als würden sich diese beiden Vorgänge gegenseitig aufheben.
    »Hier«, sagte Alice, als sie auf der Straße waren.

    Sie ließ die Schlösser eines dunkelgrünen Kombis aufschnappen, und Mattia dachte, dass der Wagen für sie allein zu groß war.
    »Willst du fahren?«, fragte Alice, ohne lange nachzudenken.
    »Ich kann nicht Auto fahren.«
    »Machst du Witze?«
    Er zuckte mit den Achseln. Über das Autodach hinweg blickten sie sich an. Die Karosserie zwischen ihnen glitzerte in der Sonne.
    »Das brauchte ich drüben nicht«, rechtfertigte er sich.
    Nachdenkend tippte sich Alice mit dem Autoschlüssel ein paarmal leicht gegen das Kinn.
    »Dann weiß ich, wo wir hinfahren«, sagte sie. Ihre Augen blitzten, genau wie früher, wenn sie als junges Mädchen einen ihrer typischen Einfälle hatte.
    Sie stiegen ein. Auf dem Armaturenbrett vor Mattia lag nichts außer zwei CDs aufeinander, die beschrifteten Rücken ihm zugewandt: Bilder einer Ausstellung von Mussorgski und Klaviersonaten von Schubert.
    »Bist du jetzt auf klassische Musik umgestiegen?«
    Alice warf einen flüchtigen Blick auf die CDs und rümpfte die Nase. »Wo denkst du hin? Die gehören ihm. Ich schlafe dabei nur ein.«
    Mattia presste sich gegen den Sicherheitsgurt, der ihn an der Schulter kratzte, weil er auf eine kleinere Person eingestellt war. Wahrscheinlich auf Alice, die normalerweise dort auf dem Beifahrersitz saß, wenn ihr Ehemann fuhr. Dabei hörten sie zusammen klassische Musik. Mattia versuchte, sich das vorzustellen, ließ sich dann aber ablenken von der Warnung auf dem Rückspiegel: Objects in the mirror are closer than they appear .

    »Du sprichst von Fabio, oder?«, fragte er. Die Antwort kannte er bereits, aber er wollte diesen Knoten lösen, diese störende stumme Gestalt vertreiben, die sie vom Rücksitz aus zu beobachten schien. Er wusste, andernfalls würde ihre Unterhaltung auf Grund laufen, wie ein an den Klippen zerschelltes Schiff.
    Alice nickte, aber das schien ihr Mühe zu bereiten. Hätte sie ihm jetzt alles erzählt, von Fabios Kinderwunsch, ihrem Streit und den Reiskörnern, die immer noch in einigen Ecken ihrer Küche zu finden waren, hätte er denken müssen, dass sie ihn deswegen benachrichtigt hatte. Und die Sache mit Michela hätte er ihr nicht mehr geglaubt, sie stattdessen für eine Frau in einer Ehekrise gehalten, die nun versuchte, alte Verbindungen neu zu knüpfen. Und einen Moment lang fragte sie sich, ob es sich nicht tatsächlich so verhielt.
    »Habt ihr Kinder?«
    »Nein.«
    »Und warum nicht?«
    »Lass einfach«, unterbrach ihn Alice.
    Mattia schwieg, entschuldigte sich aber nicht.
    »Und du?«, begann sie nach einer Weile. Da sie sich vor der Antwort fürchtete, hatte sie gar nicht fragen wollen. Dann aber kamen ihr die Worte wie von selbst über die Lippen, und fast wunderte sie sich darüber.
    »Nein«, antwortete er.
    »Du hast keine Kinder?«
    »Ich habe …« Niemanden , hätte er beinahe gesagt. »Ich bin nicht verheiratet.«
    Alice nickte.
    »Du zierst dich also immer noch.« Sie wandte ihm lächelnd das Gesicht zu.

    Mattia verstand, worauf sie anspielte, und schüttelte verlegen den Kopf.
    Sie waren auf einem großen, leeren Parkplatz beim Flughafen angekommen, der umgeben war von dicht an dicht stehenden, hohen Fertigbauten, in denen niemand wohnte. Vor einer grauen Wand waren neben einem heruntergelassenen Rollgitter drei mit Plastikplanen geschützte Stapel Holzklapptische aufgeschichtet. Über dem Dach sah man einen erloschenen Neonschriftzug, der des Nachts wohl in grellem Orange erstrahlte.
    Alice hielt mitten auf dem Parkplatz und stellte den Motor ab.
    »So, jetzt bist du dran«, sagte sie, indem sie die Wagentür öffnete.
    »Womit denn?«
    »Mit dem Fahren.«
    »Unsinn«, wehrte Mattia ab. »Das kannst du vergessen.«
    Sie blickte ihn aufmerksam mit halb geschlossenen Augen und ein wenig geschürzten Lippen an. Allmählich schien Alice zu dieser besonderen Zuneigung zurückzufinden, die sie einmal beide verbunden hatte.
    »Du hast dich kaum verändert«, sagte sie. Es klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher erleichtert.
    »Du aber auch nicht«, antwortete er.
    Er zuckte mit den Achseln.
    »Okay, probieren
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