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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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gegenüberliegenden Straßenseite stehen und blickte auf das Haus, in dem er so lange gewohnt hatte. Die Tasche, die er über der Schulter trug, war leicht. Nicht viel mehr als saubere Kleidung für zwei, höchstens drei Tage befand sich darin.
    Die Haustür stand offen, und er nahm die Stufen bis zu ihrem Stockwerk hinauf. Er läutete, hörte aber zunächst keinerlei Geräusch von innen. Dann öffnete sein Vater die Tür, und weil sie beide zunächst kein Wort herausbrachten, lächelten sie sich nur an und staunten über die verstrichene Zeit, die ihnen die Veränderungen des anderen vor Augen führte.
    Pietro Balossino war alt geworden. Das sah man nicht nur an den weißen Haaren und den prallen, hervorstehenden Adern auf den Handrücken. Sondern vor allem an der Haltung, wie er vor seinem Sohn stand, wie er unmerklich am ganzen Körper zitterte und sich auf die Türklinke stützte, als könne er sich auf seine Beine allein nicht recht verlassen.
    Ein wenig unbeholfen umarmten sie sich. Dabei glitt Mattia die Tasche von der Schulter, sie drängte sich zwischen sie.
Er ließ sie zu Boden fallen. Ihre beiden Körper hatten immer noch dieselbe Temperatur. Pietro Balossino strich seinem Sohn übers Haar und erinnerte sich so vieler Dinge, die ihm, wie sie jetzt so zusammen auf ihn einstürmten, in der Brust wehtaten.
    Mit einem Blick fragte Mattia nach seiner Mutter, und Pietro verstand sofort. »Mama ruht sich aus«, sagte er. »Ihr war nicht gut. Vielleicht diese Hitze zurzeit.«
    Mattia nickte.
    »Hast du Hunger?«
    »Nein. Aber Durst. Vielleicht ein Glas Wasser.«
    »Ich hol dir eins.«
    Eilig verschwand sein Vater in der Küche, als suchte er einen Vorwand, um von der Schwelle wegzukommen. Mattia dachte, dass am Ende nur noch dies blieb, dass die Liebe der Eltern einzig in kleinen Fürsorglichkeiten Ausdruck fand, im Interesse an den Alltagsdingen, nach denen sie sich jeden Mittwoch am Telefon der Reihe nach erkundigten: Essen, Hitze und Kälte, Müdigkeit, manchmal auch Geld. Der ganze Rest war wie verschüttet in unerreichbaren Tiefen, zubetoniert unter einer dicken Schicht nie erfolgter Aussprachen, erwarteter und nie ausgesprochener Entschuldigungen, fehlerhafter Erinnerungen, die nie richtiggestellt wurden.
    Er durchquerte den Flur bis zu seinem Zimmer. Er war sich sicher, dass er dort alles so vorfinden würde, wie er es hinterlassen hatte, so als sei dieser Ort gefeit gegen die Erosionen der Zeit, als wären all die Jahre seiner Abwesenheit nichts als eine Auszeit gewesen. So überkam ihn, als er sah, dass alles anders war, eine tiefe Enttäuschung, dem entsetzlichen Gefühl nicht unähnlich, gar nicht mehr da zu sein. Die einst azurblau gestrichenen Wände waren cremefarben tapeziert,
wodurch der Raum heller wirkte, und anstelle seines Bettes fand er nun das Sofa vor, das jahrelang im Wohnzimmer gestanden hatte. Immerhin war der Schreibtisch unter dem Fenster nicht verrückt worden, aber von ihm selbst lag nichts mehr darauf, stattdessen ein Stapel Zeitungen neben einer Nähmaschine. Auch Fotos entdeckte er nicht, weder von ihm selbst noch von Michela.
    Er verharrte auf der Schwelle, als wartete er auf die Genehmigung, eintreten zu dürfen. Sein Vater, der mit dem Glas Wasser zu ihm trat, schien seine Gedanken zu erraten.
    »Deine Mutter wollte Nähen lernen«, sagte er, wie um sich zu rechtfertigen. »Aber sie hat schnell wieder die Lust daran verloren.«
    Mattia leerte das Glas in einem Zug und stellte seine Tasche an eine Wand, wo sie nicht im Weg war.
    »Ich muss jetzt los«, sagte er.
    »Was? Schon? Du bist doch gerade erst gekommen.«
    »Ich muss jemanden treffen.«
    Pietros Blick meidend, drückte er sich, mit dem Rücken dicht an der Wand, an seinem Vater vorbei. Ihre Körper waren sich zu ähnlich, zu sperrig und zu erwachsen, um sich nahe zu kommen. Er brachte das Glas in die Küche, spülte es aus und stellte es umgedreht aufs Abtropfgitter über dem Becken.
    »Ich bin heute Abend wieder da«, sagte er.
    Mit einer Handbewegung verabschiedete er sich von seinem Vater, der im Wohnzimmer stand, an exakt derselben Stelle, wo er, in einem anderen Leben, seine Frau in den Arm genommen und über den Sohn gesprochen hatte. Es stimmte nicht, dass Alice ihn erwartete, er wusste noch nicht einmal, wo er sie treffen konnte, doch er musste so schnell wie möglich hier raus.

44
    Im ersten Jahr hatten sie sich noch geschrieben. Wie bei allem, was sie beide betraf, war es auch hier Alice, die damit angefangen
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