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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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fünf Plätzchen in den Mund. Wie Glasscherben kratzten sie ihr beim Schlucken in der Kehle. Erst als die Krämpfe im Magen so stark wurden, dass sie sich auf den Boden setzen musste, um die Schmerzen auszuhalten, hielt sie inne.

    Als sie sich ein wenig erholt hatte, rappelte sie sich auf und humpelte - ohne jede Zurückhaltung, wie immer, wenn sie allein war - zu ihrer Dunkelkammer hinüber. In der zweitobersten Ablage stand eine Reihe von Schachteln. Sie wählte die aus, auf der seitlich, mit rotem Permanentmarker geschrieben, Schnappschüsse stand, kippte den Inhalt auf den Tisch und begann, mit den Fingern den Berg Fotos auseinanderzuschieben. Einige klebten zusammen. Rasch ging Alice sie durch und fand schließlich die Aufnahme, die sie gesucht hatte.
    Lange betrachtete sie das Foto. Wie jung Mattia war und sie selbst auch. Er hatte den Kopf ein wenig gesenkt, und so fiel es nicht leicht, seine Gesichtszüge so genau zu studieren, dass man Ähnlichkeiten mit einer anderen Person ausmachen konnte. Viel Zeit war seither verstrichen. Zu viel Zeit vielleicht.
    Dieses starre Bild rief andere Bilder in ihr wach, und Alices Geist verwob sie und ließ auf diese Weise Bewegungen wiedererstehen, Klangfetzen, Gefühlssplitter. Eine ebenso verzehrende wie angenehme Wehmut überkam sie.
    Hätte sie einen Punkt auswählen können, um noch einmal von vorn anzufangen, so wäre es dieser gewesen: sie beide, Mattia und sie, in der Stille eines Zimmers, sehr vertraut, mit ihren Konturen perfekt zueinanderpassend und doch zögernd, einander zu berühren.
    Sie musste ihn benachrichtigen. Nur wenn sie ihn vor sich sah, konnte sie sich Klarheit verschaffen. Und falls seine Schwester wirklich noch lebte, hatte Mattia das Recht, es sofort zu erfahren.
    Zum ersten Mal kam ihr nun die Entfernung, durch die sie getrennt waren, lächerlich gering vor. Sicher lebte er noch
dort, wohin sie ihm Jahre zuvor einige Briefe geschickt hatte. Wäre er umgezogen, hätte sie das irgendwie gespürt. Denn Mattia und sie selbst waren durch einen unsichtbaren, sehr elastischen Faden verbunden, der unter einem Berg bedeutungsloser Dinge verborgen war, ein Faden, wie er nur Menschen wie sie beide verbinden konnte: zwei Menschen, die im jeweils anderen die eigene Einsamkeit wiedererkannt hatten.
    Sie wühlte unter dem Berg Fotos herum und fand einen Füller, setzte sich zum Schreiben nieder und gab acht, dass sie dabei die Tinte nicht mit der Hand verschmierte. Als sie fertig war, blies sie drüber, um sie zu trocknen. Dann suchte sie einen Briefumschlag, steckte das Foto hinein und klebte ihn zu.
    Vielleicht kommt er ja, dachte sie.
    Ein wohliger Schauder durchlief ihren ganzen Körper und brachte sie zum Lächeln, als beginne genau jetzt noch einmal alles von vorn.

43
    Bevor sie Kurs auf die Landepiste nahm, schwebte die Maschine über den grünen Fleck, zu dem der Hügel zusammenschmolz, ließ die Basilika hinter sich und überflog das gesamte Stadtzentrum zweimal auf einer kreisrunden Bahn. Mattia wählte die ältere der beiden Brücken als Anhaltspunkt und folgte mit den Augen der Straße bis zu dem Haus, in dem seine Eltern wohnten. Es schien immer noch dieselbe Farbe zu haben wie damals, als er es verlassen hatte.
    Ganz in der Nähe erkannte er den Park, der von zwei mehrspurigen Straßen, die in einem weiten Bogen zusammenflossen, begrenzt und genau in der Mitte vom Fluss durchschnitten wurde. An einem so klaren Nachmittag konnte man dort unten wirklich alles erkennen: Heute hätte niemand spurlos verschwinden können.
    Er lehnte sich noch weiter vor, um zu erkennen, was hinter dem Flugzeug zurückblieb. Sein Blick folgte der Straße, die sich ein Stück den Hügel hinaufschlängelte, und fand die Villa der Familie Della Rocca, die mit ihrer weißen Fassade
und den großen, fast ineinander übergehenden Fenstern einem mächtigen Eisblock ähnelte. Ein wenig oberhalb davon lag seine alte Schule mit der grünen Feuertreppe, an deren kalte, raue Oberfläche er sich gut erinnerte.
    Der Ort, an dem er die andere, schon abgeschlossene Hälfte seines Lebens verbracht hatte, glich einem gigantischen Relief aus bunten Quadern und starren Formen.
    Am Flughafen nahm er sich ein Taxi. Sein Vater hatte ihn unbedingt abholen wollen, doch Mattia hatte gesagt: Nein, ich komme allein, in jenem Ton, den seine Eltern sehr gut kannten und bei dem jeder Einwand sinnlos war.
    Auch als das Taxi längst wieder losgefahren war, blieb er auf dem Gehweg der
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