Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
hatte. Sie schickte ihm das Foto einer Torte mit dem ein wenig schiefen, aus halben Erdbeeren gebildeten Schriftzug Alles Gute zum Geburtstag darauf. Auf die Rückseite hatte sie nur A. und nichts weiter geschrieben. Den Geburtstagskuchen für Mattia hatte sie selbst gebacken und dann ganz in den Mülleimer geworfen. Mattia antwortete ihr mit einem vierseitigen, eng beschriebenen Brief, in dem er ihr erzählte, wie schwierig es sei, an einem fremden Ort, wo man die Sprache nicht kenne, ganz neu anzufangen, und in dem er sich bei ihr dafür entschuldigte, dass er fortgegangen war. Oder zumindest hatte sie diesen Eindruck. Zu Fabio hatte er sie gar nichts gefragt, weder in diesem noch in späteren Briefen, und sie selbst schrieb ihm auch nichts über ihn. Dennoch spürten beide die bedrohliche Anwesenheit eines Dritten gleich neben dem Rand des Briefpapiers. Und nicht zuletzt deshalb begannen sie schon bald beide, immer
sachlicher zu schreiben und zwischen den Briefen immer mehr Zeit verstreichen zu lassen, bis ihr Briefwechsel ganz eingeschlafen war.
    Einige Jahre später hatte Mattia noch einmal einen Brief erhalten. Eine Einladung zur Hochzeit von Alice und Fabio, die er mit Tesafilm an den Kühlschrank heftete, so als solle sie ihn dort an etwas erinnern. Jeden Morgen und jeden Abend fiel sein Blick nun darauf, und jedes Mal schien es ihm ein bisschen weniger wehzutun. Eine Woche vor dem Fest schaffte er es dann, ein Telegramm abzuschicken: Danke für die Einladung, muss wegen beruflicher Verpflichtungen absagen. Glückwünsche, Mattia Balossino . In einem Geschäft in der Innenstadt hatte er fast den ganzen Morgen nach einem passenden Geschenk gesucht und schließlich eine Vase gekauft, die er dann dem Brautpaar an dessen neue Adresse schicken ließ.
    Es war aber nicht diese Adresse, zu der er sich nun aufmachte, als er aus dem Haus seiner Eltern auf die Straße trat. Stattdessen lenkte er seine Schritte zur Villa der Familie Della Rocca oben am Hügel, wo sie beide, Alice und er, so viele Nachmittage verbracht hatten. Es war ihm klar, dass er sie dort nicht antreffen würde, er wollte aber so tun, als sei seit damals alles unverändert geblieben.
    Lange zögerte er, bevor er läutete. Über die Sprechanlage antwortete ihm eine Frau, wahrscheinlich Soledad.
    »Wer da?«
    »Ich möchte zu Alice«, sagte er.
    »Alice wohnt hier nicht mehr.«
    Ja, es war Soledad. Er erkannte ihren immer noch ausgeprägten spanischen Akzent.
    »Wer sind Sie denn?«, fragte die Haushälterin.

    »Mattia.«
    Ein langes Schweigen folgte. Offenbar versuchte Soledad sich zu erinnern.
    »Ich kann Ihnen Alices neue Adresse geben.«
    »Nicht nötig. Die habe ich«, sagte er.
    »Gut, dann auf Wiedersehen«, verabschiedete ihn Soledad nach einem erneuten, nun kürzeren Schweigen.
    Ohne sich noch einmal umzudrehen und den Blick nach oben zu richten, entfernte er sich. Er war sich sicher, dass Soledad an einem Fenster stand und ihn beobachtete. Wahrscheinlich erinnerte sie sich langsam wieder deutlicher an ihn und fragte sich, was wohl aus ihm geworden sein mochte, warum er zurückgekehrt war und was er jetzt hier suchte. Ihm selbst wäre es schwergefallen, ihr darauf eine Antwort zu geben.

45
    Alice erwartete keine schnelle Antwort. Gerade einmal fünf Tage war es her, dass sie die Nachricht abgeschickt hatte, und möglicherweise hatte er sie noch gar nicht gelesen. Jedenfalls war sie sich sicher, dass er vorher anrufen und sich mit ihr verabreden würde, vielleicht in einer Bar, wo sie ihn dann behutsam auf die Neuigkeit hätte vorbereiten können.
    Das Warten auf ein Lebenszeichen von ihm erfüllte ihre Tage. Bei der Arbeit war sie ein wenig zerstreut, aber guter Dinge, und Crozza wagte es nicht, sie nach dem Grund dafür zu fragen, obwohl er im Grunde seines Herzens glaubte, selbst ein wenig Anteil daran zu haben. Die Leere nach der Trennung von Fabio war von einer fast teenagerhaften Ungeduld abgelöst worden. Im Kopf gestaltete und verwarf Alice immer wieder das Bild, wie Mattia und sie sich wiedertreffen würden, veränderte Details, betrachtete die Szene aus verschiedenen Blickwinkeln. Mittlerweile ging sie bereits derart in dem Gedanken daran auf, dass er ihr nicht mehr wie eine Projektion, sondern schon wie eine Erinnerung vorkam.

    Sie hatte sich auch in der Stadtbibliothek umgesehen. Dazu musste sie sich zunächst einen Ausweis ausstellen lassen, denn nie zuvor hatte sie einen Fuß dort hineingesetzt. Sie suchte sich also die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher