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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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Zeitungen heraus, die damals über Michelas Verschwinden berichtet hatten, und als sie die Artikel las, war sie so verstört, als trage sich dieses ganze Drama jetzt noch einmal zu, ganz in ihrer Nähe. Ihre Sicherheit allerdings geriet ins Wanken, als sie ein Bild von Michela auf der ersten Seite sah, ein Foto, auf dem sie verwirrt wirkte und auf einen Punkt oberhalb des Objektivs starrte, vielleicht die Stirn desjenigen, der sie aufgenommen hatte. Im nächsten Moment schon verdrängte diese Aufnahme Alices Erinnerung an die junge Frau im Krankenhaus, überlagerte sie zu deckungsgleich, um ihr selbst noch glaubwürdig zu erscheinen. Und zum ersten Mal überlegte sie, dass ihr Eindruck vielleicht doch nur Einbildung war, eine Halluzination, von der sie sich zu lange hatte blenden lassen. Also hielt sie das Foto einfach zu und konzentrierte sich, diese Zweifel entschlossen verdrängend, nur noch auf den Text.
    Michelas Leichnam war nie gefunden worden. Nichts war geblieben, kein Kleidungsstück, keine Spur. Das kleine Mädchen hatte sich völlig in Luft aufgelöst, und monatelang glaubte man an eine Entführung, doch Hinweise gab es nicht, keinen einzigen Verdächtigen, gegen den man hätte ermitteln können. Schließlich war der Fall in der Presse aus den Schlagzeilen in die Randspalten gerutscht, bis er ganz in Vergessenheit geriet.
    Als es jetzt an der Tür läutete, war Alice gerade damit beschäftigt, sich die Haare zu trocknen. Ohne zu fragen, wer denn da sei, drückte sie auf den Türöffner und schlang sich, während sie wartete, das Handtuch um den Kopf. Sie war
barfuß, und das Erste, was Mattia von ihr sah, waren die nackten Füße, der zweite Zeh, ein wenig länger als der große, reckte sich vor, während der vierte, nach unten gekrümmt, sich versteckte. Details, die ihm noch präsent waren, die in seinem Kopf länger überdauert hatten als die Erinnerung an Gespräche und Situationen.
    »Ciao«, sagte er, indem er aufblickte.
    Alice trat einen Schritt zurück und zog unwillkürlich die Schöße ihres Bademantels enger zusammen, als fürchte sie, das Herz könne ihr aus der Brust springen. Dann erst blickte sie Mattia genauer an und begann sich langsam bewusst zu werden, dass er es tatsächlich war. Sie umarmte ihn, lehnte sich mit ihrem leichten Körper gegen ihn, während er den rechten Arm um ihre Taille legte, die Finger aber gestreckt ließ, wie um vorsichtig zu sein.
    »Einen Moment, ich bin sofort wieder da«, sagte sie schnell und verschwand schon wieder in der Wohnung, schloss die Tür hinter sich und ließ ihn draußen stehen. Sie brauchte ein paar Minuten für sich allein, um sich anzuziehen und zu schminken und sich die Tränen aus den Augen zu wischen, bevor er sie bemerkte.
    Mattia setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf die Stufe vor dem Eingang. Während er wartete, betrachtete er den kleinen Garten, die fast perfekte Symmetrie der niedrigen Hecken, die den Gartenweg zu beiden Seiten säumten, ihre Wellenform, die genau bei der Hälfe der Periode einer Sinuskurve abbrach. Als er die Tür aufgehen hörte, fuhr er herum, und einen kurzen Moment lang schien ihm alles wie damals zu sein: Er draußen wartend, während sie aus der Tür trat, lächelnd und fein gekleidet, um dann mit ihm durch die Straße zu laufen, ohne sich über ein Ziel verständigt zu haben.

    Alice bückte sich und gab ihm einen Kuss auf die Backe. Um sich mit ihrem steifen Bein neben ihn setzen zu können, musste sie sich an seiner Schulter festhalten. Er machte ihr Platz. Da sie sich nicht anlehnen konnten, saßen sie beide ein wenig nach vorn geneigt.
    »Du hast dich sehr beeilt«, sagte Alice.
    »Dein Brief ist gestern Morgen gekommen.«
    »Dann ist es also gar nicht so weit, bis zu dir.«
    Mattia senkte den Kopf. Alice ergriff seine rechte Hand und wartete, dass er die Handfläche öffnete. Mattia widersetzte sich nicht, vor Alice brauchte er sich seiner Wunden nicht zu schämen.
    Es waren neue darunter, erkennbar als dunklere Linien in dem Geflecht der weißen Narben. Doch ganz frisch schien keine zu sein, abgesehen von einem runden Fleck, der wie eine Brandwunde aussah. Mit dem Zeigefinger fuhr Alice die Umrisse entlang, aber durch all die verhärteten Hautschichten spürte er ihre Berührung kaum. Er ließ sie die Hand in Ruhe anschauen, denn sie erzählte sehr viel mehr, als er es mit seiner Stimme hätte tun können.
    »Ich dachte, es sei etwas Wichtiges.«
    »Das ist es auch.«
    Er drehte sich zu ihr um, und
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