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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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achten.
    »Okay«, sagte er.
    Er hielt auf die Parkplatzausfahrt zu, und an der Einmündung zur Straße angekommen, lehnte er sich vor und schaute aufmerksam nach links und rechts. Gefühlvoll schlug er den Lenker ein und machte dabei unwillkürlich mit dem ganzen Oberkörper die Bewegung mit wie ein kleiner Junge, der Autofahren spielt.
    Dann waren sie auf der Straße. Über den mittleren Rückspiegel
schien Mattia die tief stehende Sonne hinter ihnen in die Augen, die Tachonadel zeigte dreißig Stundenkilometer, und das ganze Auto vibrierte bereits, wie ein gezähmtes Raubtier, das lauter und lauter hechelt.
    »So gut?«, fragte er.
    »Sehr gut. Aber jetzt kannst du in den Dritten schalten.«
    Die Straße führte noch einige Hundert Meter geradeaus, und während Mattia starr nach vorn schaute, nutzte Alice die Gelegenheit, ihn in aller Ruhe von Nahem zu betrachten. Das war nicht mehr der Mattia auf dem Foto. Die Haut in seinem Gesicht war kein einheitlich glattes, elastisches Gewebe mehr; erste, noch sehr feine Falten durchzogen seine Stirn. Er hatte sich rasiert, doch frische schwarze Stoppeln sprossen bereits und tüpfelten seine Wangen. Sein Körper wirkte massiv und schien keine Zonen mehr aufzuweisen, die Alice hätte nutzen können, um, wie sie es sich als junges Mädchen so gern erlaubt hatte, auf sein Terrain vorzudringen. Oder war sie es, die das Gefühl hatte, kein Recht mehr dazu zu haben? Nicht mehr dazu fähig zu sein?
    Sie versuchte, eine Ähnlichkeit mit der jungen Frau in der Klinik zu erkennen, doch nun, da Mattia vor ihr saß, verschwamm die Erinnerung an die Fremde noch mehr. Alle Einzelheiten, die ihr so eindeutig vorgekommen waren, schienen nun weniger klar hervorzutreten. Die Haare der Frau waren vielleicht doch heller gewesen. Und sie erinnerte sich weder an Grübchen beiderseits des Mundes noch an Augenbrauen, die an den äußeren Enden so dicht waren. Tatsächlich fürchtete sie nun zum ersten Mal, sich glatt geirrt zu haben.
    Wie soll ich ihm das bloß alles erklären, dachte sie.
    Mattia räusperte sich, als zöge sich das Schweigen schon
zu lange hin oder als habe er gemerkt, dass Alice ihn musterte. Sie wandte den Blick ab, in Richtung des Hügels.
    »Weißt du noch, wie ich dich zum ersten Mal mit dem Auto abgeholt habe?«, fragte sie. »Da hatte ich den Führerschein noch keine Stunde.«
    »Klar. Und unter allen möglichen Kandidaten musstest du ausgerechnet mich als Versuchskaninchen auswählen.«
    Alice fand, dass er unrecht hatte. Sie hatte ihn nicht unter mehreren ausgewählt, sondern überhaupt keinen anderen in Erwägung gezogen.
    »Du hast dich die ganze Zeit am Türgriff festgeklammert und ›Mach langsam! Mach langsam!‹ gerufen.«
    Sie äffte ihn mit kreischender Weibchenstimme nach. Mattia erinnerte sich, dass er sich lange gesträubt hatte, weil er am nächsten Tag eine Analysis-Prüfung hatte, schließlich aber nachgegeben hatte, weil es Alice so verdammt wichtig zu sein schien. Den ganzen Nachmittag hatte er immer wieder überschlagen, wie viele Stunden ihm durch den Ausflug fürs Lernen verloren gingen. Wenn er jetzt daran zurückdachte, kam er sich dumm vor.
    »Eine geschlagene halbe Stunde sind wir im Kreis gefahren, um zwei freie Parklücken nebeneinander zu finden, weil du in eine allein nicht reinkamst«, sagte er, um diese Gedanken zu vertreiben.
    »Das war nur ein Vorwand, um dich neben mir festzuhalten«, antwortete Alice. »Aber das hast du ja nie begriffen.«
    Sie lachten beide, um die Wirkung dieses Satzes einzudämmen.
    »Wo soll ich langfahren?«, fragte Mattia, jetzt wieder ernst.
    »Bieg hier ab.«

    »Okay. Aber dann reicht’s auch. Dann überlasse ich dir das Steuer.«
    Ohne dass Alice ihn dazu auffordern musste, schaltete er vom dritten in den zweiten Gang zurück, nahm sicher die Kurve und bog in eine im Schatten liegende, engere Straße ohne Farbahnmarkierung ein, die fast erdrückt wurde von zwei hohen, geschlossenen Reihen fensterloser Gebäude.
    »Ich halte dort hinten«, sagte er.
    Sie waren fast an der Stelle angekommen, als plötzlich ein Laster mit Anhänger um die nächste Ecke bog und ihnen nun, rücksichtslos fast die ganze Fahrbahn einnehmend, entgegenkam.
    Mattias Hände schlossen sich noch fester ums Lenkrad. Sein rechter Fuß kannte nicht den Instinkt, auf die Bremse zu gehen, und drückte stattdessen das Gaspedal noch weiter durch. Alices heiles Bein suchte ein Pedal, das nicht in Reichweite war. Und der Laster verlangsamte nicht,
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