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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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Wohnzimmer zurückkam.
    Während sie wartete, dass das Wasser kochte, räumte sie hektisch auf. Hin und wieder wandte sie den Kopf, um einen Blick ins Wohnzimmer zu werfen, konnte aber nur das eintönig strahlende Blau der Rückenlehne erkennen.
    Gleich würde Mattia sie fragen, warum sie ihm geschrieben hatte, und dann konnte sie ihm nicht mehr ausweichen. Nur wusste sie es jetzt selbst nicht mehr so genau. Ihr war eine jüngere Frau aufgefallen, die ihm ähnelte. Ja, und? Auf der Welt wimmelte es von Leuten, die sich ähnlich sahen, gab es ständig eigenartige, bedeutungslose Zufälle. Sie hatte doch mit jener Frau noch nicht einmal ein einziges Wort gewechselt. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, während Mattia drüben im anderen Zimmer lag, kam ihr das alles absurd und grausam vor.

    Fest stand nur, dass er zurückgekehrt war und dass sie sich wünschte, er würde nicht mehr fortgehen.
    Sie spülte noch einmal die eigentlich sauberen, im Waschbecken gestapelten Teller und nahm den mit Wasser gefüllten Topf vom Herd. Seit Wochen klebte eine Handvoll Reis auf dem Boden fest. Durch das Wasser betrachtet, sahen die Reiskörner größer aus. Sie leerte den Topf, nahm eine Tasse von der Ablage, füllte sie mit kochendem Wasser und tauchte einen Teebeutel hinein, der es sofort dunkel färbte. Dann gab sie noch zwei gehäufte Löffel Zucker hinzu und kehrte zu Mattia zurück.
    Seine Hand war von den geschlossenen Augen zum Hals hinuntergeglitten. Die Gesichtshaut hatte sich entspannt, und seine Miene wirkte gleichmütig. In regelmäßigen Abständen hob und senkte sich sein Brustkorb.
    Ohne den Blick von ihm abzuwenden, stellte Alice die Tasse auf die Glasplatte des Couchtischchens und nahm auf dem Sessel daneben Platz. Außer Mattias Atemzügen war nichts zu hören.
    Mit einem Male hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf nun endlich wieder klarer wurde, sich ihre Gedanken gemächlicher bewegten, nachdem sie eine Zeitlang wie wahnsinnig gerast waren, hin zu einem unbestimmten Ziel, und sie fand sich in ihrem eigenen Wohnzimmer wieder, als wäre sie aus einer anderen Dimension hereingeplatzt.
    Vor ihr lag ein Mann, den sie einmal gut gekannt hatte und der nun ein anderer war. Vielleicht ähnelte er tatsächlich der jungen Frau vor jener sich automatisch öffnenden Tür im Krankenhaus. Aber gleich, nein, das waren sie sicher nicht. Und dieser Mattia, der schlafend auf ihrer Couch lag, war nicht mehr der junge Mann, den sie hinter den Fahrstuhltüren
hatte verschwinden sehen, an jenem Abend, als ein warmer, aufwühlender Wind von den Bergen herabgeweht war. Das war nicht mehr jener Mattia, der sich einst in ihrem Kopf festgesetzt und allem anderen den Weg versperrt hatte.
    Nein, vor ihr lag ein erwachsener Mann, der es geschafft hatte, sich um einen furchterregenden Abgrund herum, auf brüchigem Terrain, ein Leben aufzubauen, weit weg, unter Menschen, die sie nicht kannte. Und sie war dazu bereit gewesen, ihm all das wieder zu zerstören, das verschüttete Grauen wieder ans Tageslicht zu bringen, auf einen bloßen Verdacht hin, der so vage war wie die Erinnerung an eine Erinnerung.
    Doch jetzt, da Mattia so vor ihr lag, mit geschlossenen Augen und Dingen im Kopf, zu denen sie keinen Zugang hatte, wurde ihr so einiges klar: Sie hatte den Kontakt zu ihm gesucht, weil sie ihn brauchte, weil ihr Leben, seit er sie an jenem Abend auf dem Treppenabsatz hatte stehen lassen, in eine Senke gerutscht war, aus der sie sich nicht mehr befreien konnte. Mattia war das Ende eines verknäulten Fadens, in dem sie sich mit den Jahren immer schlimmer verheddert hatte. Sollte sie noch eine Chance haben, ihn zu entwirren, die Knoten zu lösen, so nur, wenn sie das Fadenende, das sie nun in der Hand hielt, nicht mehr losließ.
    Sie spürte, dass sich jetzt etwas klärte, wie eine Erfüllung nach langem Warten, spürte es in allen Gliedern, sogar in ihrem lahmen Bein, das doch sonst von nichts etwas mitbekam.
    Es war ganz natürlich, jetzt aufzustehen. Sie fragte sich noch nicht einmal, ob es richtig war oder nicht, ob sie tatsächlich ein Recht dazu besaß. Es geschah nicht mehr, als dass Zeit verrann und neue Zeit nach sich zog. Es war etwas
Naheliegendes, das von einer Zukunft oder der Vergangenheit ganz unberührt war.
    So beugte sie sich über Mattia und küsste ihn auf die Lippen. Ohne Angst, ihn zu wecken, küsste sie ihn, wie man einen wachen Menschen küsst, ließ ihre Lippen auf den seinen ruhen, wie um dort ein Zeichen zu
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