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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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zahlte und stieg aus dem Wagen, der sogleich wieder losfuhr. Einige Meter lief er über eine Wiese auf eine Bank zu, die dort eigens aufgestellt schien, um die Leere zu betrachten. Er stellte seine Tasche darauf ab, setzte sich aber nicht.

    Ein Zipfel der Sonne tauchte gerade am Horizont auf. Mattia versuchte sich an den Fachbegriff für diese ebene geometrische Figur zu erinnern, die von einem Bogen und einem anderen Segment begrenzt wurde, aber er fiel ihm nicht ein. Die Sonne schien sich jetzt schneller als tagsüber zu bewegen, man nahm das Tempo wahr, und es schien, als habe sie es eilig, hervorzukommen. Rot, orange und gelb waren die Strahlen, die sie aufs Wasser warf, und Mattia wusste warum, aber dies zu wissen war keine Bereicherung, und jetzt auch nichts, wovon er sich ablenken ließ.
    Das Rund der Küstenlinie war eben, der Wind fegte darüber, und er war der Einzige, der sie betrachtete.
    Endlich löste sich die gigantische rote Kugel wie eine aufsteigende Seifenblase ganz vom Wasser. Einen Moment lang dachte Mattia an die Kreisbewegungen der Sterne und Planeten, an die Sonne, die abends in seinem Rücken unter- und morgens vor ihm aufging. Tag für Tag, unter und über dem Wasser, ob er das Schauspiel nun betrachtete oder nicht. Es war nicht mehr als Mechanik, Erhaltung der Energie und des Drehimpulses, nichts anderes als ein Zusammenspiel zentripetaler und zentrifugaler Schübe, nichts Geheimnisvolleres als eine Bahn, die nur so und nicht anders verlaufen konnte.
    Langsam schwächten sich die grellen Farbtöne ab, und das klare Blau des Morgens begann aus den anderen Farben hervorzugehen, nahm zunächst das Meer, dann auch den Himmel ein.
    Mattia blies sich in die Hände, die im salzigen Wind steif geworden waren, und steckte sie dann in die Jacke. Da spürte er etwas in der rechten Tasche. Er holte einen zweimal gefalteten Zettel hervor. Es war Nadias Nummer. Im Kopf las er die Zahlenreihe und lächelte.

    Er wartete noch, bis auch die letzte violette Flamme am Horizont erloschen war, und machte sich dann, durch einen leichten Nebel, der sich weiter ausbreitete, auf den Weg nach Hause.
    Seinen Eltern hätte dieser Sonnenaufgang gefallen. Vielleicht würde er ihn eines Tages mit ihnen zusammen betrachten, und dann würden sie weiter am Strand entlangspazieren, bis zum Hafen, um dort mit Lachssandwiches zu frühstücken. Er würde ihnen erklären, was da geschah, wie die unendlichen Wellenlängen verschmolzen und so das weiße Licht bildeten. Er würde ihnen von Absorptions- und Emissionsspektren erzählen, und sie würden nicken und nichts verstehen.
    Die kalte Morgenluft, sie roch frisch und rein, kroch unter seine Jacke, und Mattia ließ es geschehen. Nicht weit entfernt erwarteten ihn eine Dusche, ein heißer Tee und ein Tag wie jeder andere, und das war alles, was er brauchte.

47
    Am selben Morgen, einige Stunden später, zog Alice die Rollläden hoch. Das trockene Rattern der Plastiklamellen, die sich um die Welle wickelten, hatte etwas Tröstliches. Draußen schien die Sonne und stand schon hoch am Himmel.
    Ohne lange zu überlegen, wählte sie eine CD aus dem Stapel neben der Stereoanlage. Sie wollte ein wenig Geräuschkulisse, um die Luft zu reinigen. Bis zur ersten roten Markierung drehte sie den Knopf für die Lautstärke auf. Fabio wäre aus der Haut gefahren. Sie musste lächeln, als sie daran dachte, wie er jetzt ihren Namen ausgesprochen hätte, laut rufend, um die Musik zu übertönen und das i , das Kinn vorgereckt, übertrieben in die Länge ziehend.
    Sie zog die Bettwäsche ab, warf sie in eine Ecke, nahm frische aus dem Schrank und sah zu, wie sie sich blähte und dann, sich leicht wellend, hinuntersank. Damien Rice brach jetzt kurz ab, bevor er die Zeile Oh coz nothing is lost, it’s just frozen in frost sang.
    Ohne Hast wusch sie sich, blieb lange unter der Dusche,
das Gesicht dem Wasserstrahl zugewandt. Dann zog sie sich an und legte ein leichtes, kaum wahrnehmbares Make-up auf den Wangen und Augenlidern auf.
    Als sie fertig war, war die CD schon eine Weile zu Ende, aber sie hatte es nicht gemerkt. Sie verließ das Haus und stieg in den Wagen.
    Einen Häuserblock vom Geschäft entfernt, änderte sie die Richtung. Sie würde heute ein wenig zu spät kommen, aber das machte nichts.
    Sie fuhr bis zum Park, hielt an derselben Stelle, wo Mattia ihr alles erzählt hatte, und stellte den Motor ab. Alles schien unverändert. Jugendliche belagerten die Bänke, auf denen viele Jahre zuvor
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