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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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hinterlassen. Er zuckte zusammen, schlug aber nicht die Augen auf. Nur seine Lippen öffneten sich halb und erwiderten den Kuss. Er war wach.
    Es war anders als beim ersten Mal. Ihre Gesichtsmuskeln waren nun kräftiger, wissender, bemühten sich um eine Aggressivität, die mit ihren Rollen zu tun hatte, als Mann und Frau. Über ihn gebeugt verharrte Alice, nur ihre Lippen, ihre Zunge bewegten sich. Ihren übrigen Körper schien sie vergessen zu haben.
    Der Kuss dauerte einige Minuten, so lange, dass die Realität einen Spalt zwischen ihren aufeinandergepressten Mündern finden konnte, um sich dazwischen zu drängen und beide zu zwingen, sich bewusst zu machen, was da gerade geschah.
    Sie lösten sich voneinander. Während Mattia lächelte, rasch, automatisch, betastete Alice ihre feuchten Lippen, wie um sich zu vergewissern, dass es tatsächlich geschehen war. Jetzt galt es, eine Entscheidung zu treffen, und zwar, ohne dass sie darüber sprachen. Abwechselnd schauten sie sich an, doch die Übereinstimmung war bereits verloren gegangen, und ihre Blicke trafen sich nicht.
    Unsicher stand Mattia auf. »Ich geh mal einen Moment …«, sagte er, indem er in den Flur deutete.
    »Klar. Die letzte Tür.«
    Er hatte seine Schuhe noch an, und das Geräusch seiner Schritte schien in den Boden einzudringen.

    Er schloss die Badezimmertür ab und stützte sich mit den Händen aufs Waschbecken. Benebelt und benommen fühlte er sich. Dort, wo sein Kopf gegen die Scheibe geknallt war, spürte er eine leichte Schwellung, die sich langsam ausbreitete.
    Er drehte den Hahn auf und ließ sich Wasser über die Handgelenke laufen, wie sein Vater es früher bei ihm getan hatte, wenn er das Blut stillen wollte, das aus seinen Händen hervorquoll. Er betrachtete das Wasser und dachte an Michela, wie so häufig. Es war ein Gedanke, der nicht wehtat, wie es nicht wehtat, wenn man einschlief oder atmete. Seine Schwester war mit der Strömung gegangen, hatte sich langsam aufgelöst im Fluss und kehrte übers Wasser zu ihm zurück. Ihre Moleküle verteilten sich über seinen Körper.
    Während er spürte, dass sein Kreislauf wieder in Schwung kam, versuchte er nachzudenken, ganz vernünftig, über diesen Kuss und warum er zurückgekehrt war und was er hier suchte nach so langer Zeit. Über die Frage, wieso es ihm so leichtgefallen war, Alices Lippen entgegenzukommen und wieso ihn dann das Bedürfnis überkam, sich von ihr zu lösen und hier zu verstecken.
    Sie war im Zimmer nebenan und wartete auf ihn. Was sie beide voneinander trennte, waren nicht mehr als zwei Backsteinwände, wenige Zentimeter Verputz und neun Jahre Schweigen.
    Tatsache war, dass wieder einmal Alice für ihn gehandelt hatte, dass sie ihn fast zwingen musste, zurückzukommen, obwohl er selbst sich das immer gewünscht hatte. Sie hatte ihm eine Nachricht geschrieben und Komm her! zu ihm gesagt, und er hatte sofort alles stehen und liegen lassen und war zurückgekehrt. Ein Brief hatte sie wieder zusammengeführt, so wie ein anderer Brief sie getrennt hatte.

    Mattia wusste, was er zu tun hatte. Er musste wieder rübergehen und sich zu ihr auf die Couch setzen, musste ihre Hand ergreifen und sagen: Ich hätte nicht von dir fortgehen dürfen. Musste sie noch einmal küssen, wieder und wieder, bis sie sich so weit daran gewöhnt hatten, dass sie nicht mehr darauf verzichten konnten. So sah man es in Filmen, und so geschah es in der Wirklichkeit, tagtäglich. Die Menschen nahmen sich, was sie haben wollten, klammerten sich an die meist wenigen Gemeinsamkeiten und bauten darauf ihr Leben auf. Hier bin ich, musste er zu Alice sagen oder wieder gehen, abreisen mit dem ersten Flug, verschwinden, zurück an jenen Ort, wo er in all den Jahren keinen festen Grund unter die Füße bekommen hatte.
    Mittlerweile hatte er es verstanden: Entscheidungen wurden innerhalb weniger Sekunden getroffen, und in der übrigen Zeit schlug man sich mit den Folgen herum. So war es bei Michela, dann mit Alice und nun auch wieder. Aber diesmal hatte er sie erkannt, diese wenigen entscheidenden Sekunden, und würde keinen Fehler mehr machen.
    Er legte die Hände zusammen, ließ ein wenig Wasser hineinlaufen und wusch sich das Gesicht. Ohne hinzuschauen, noch übers Waschbecken gebeugt, streckte er einen Arm aus, ertastete sich ein Handtuch und trocknete sich damit ab. Als er es vom Gesicht nahm, sah er im Spiegelbild eine etwas dunklere Stelle auf der Rückseite des Tuches. Er drehte es herum. Es waren die
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