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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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ging nur ein klein wenig mehr auf seine Seite rüber.
    »Da komm ich nicht vorbei«, rief Mattia. »Da komm ich nicht vorbei.«
    »Bremsen«, befahl ihm Alice, die sich mühte, ruhig zu erscheinen.
    Mattia war zu keinem klaren Gedanken mehr in der Lage. Erst jetzt, nur noch wenige Meter von ihnen entfernt, schien der Laster ein wenig langsamer zu werden. Während sich sein Fuß auf dem Gaspedal verkrampfte, überlegte Mattia fieberhaft, wie er seitlich vorbeikommen könnte. Dabei erinnerte er sich, wie sie früher Fahrrad gefahren waren und er, wenn der Radweg zu Ende war, scharf abbremste, um zwischen den Pflöcken, die ihn zur Fahrbahn begrenzten, hindurchzukommen, während Michela nie abgebremst hatte und stur, ohne
etwas mitzukriegen, auf ihrem Rädchen mit den Stützrädern mitten hindurchgefahren war. Und kein einziges Mal war sie mit dem Lenker dagegengestoßen.
    Er schlug das Steuer nach rechts ein und schien jetzt geradewegs auf die Häuserwand zuhalten zu wollen.
    »Brems doch!«, rief Alice noch mal. »Das Pedal in der Mitte!«
    Da trat er endlich mit beiden Füßen kraftvoll auf die Bremse. Ein heftiger Ruck durchlief den Wagen, der zwei Handbreit vor der Mauer zum Stehen kam.
    Mattias Kopf knallte gegen das linke Seitenfenster, aber der Sicherheitsgurt hielt ihn auf seinem Platz. Wie ein dünner Zweig bog sich Alice nach vorn und klammerte sich so gut sie konnte am Türgriff fest. Der Laster rauschte seitlich vorbei, gleichgültig, ein gelenkiger Zug aus zwei langen roten Gliedern.
     
    Einige Sekunden lang schwiegen sie, als müssten sie über das unerhörte Ereignis nachdenken. Dann brach Alice in Gelächter aus. Mattia brannten die Augen, und seine geschwollenen Adern am Hals zuckten und pulsierten heftig.
    »Hast du dir wehgetan?«, fragte Alice, immer noch lachend.
    Mattia war wie gelähmt und antwortete nicht. Sie bemühte sich, wieder ernst zu werden.
    »Lass mal sehen«, sagte sie.
    Sie löste den Sicherheitsgurt und beugte sich zu ihm vor, während er weiter die Wand anstarrte. Er dachte an das Wort unelastisch . Und daran, welches Maß an kinetischer Energie, die jetzt seine Beine zittern ließ, bei einem Aufprall freigesetzt worden wäre.

    Endlich nahm er den Fuß von der Bremse, und ihr Wagen mit dem abgewürgten Motor rollte ein wenig auf der kaum merklich abfallenden Straße zurück. Alice zog die Handbremse.
    »Da ist nichts«, sagte sie, indem sie Mattia über die Stirn strich.
    Er schloss die Augen und nickte. Er musste sich zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.
    »Jetzt fahren wir erst mal nach Hause, und da legst du dich hin«, sagte Alice. Als hätten sie jemals ein gemeinsames Zuhause gehabt.
    »Ich muss zu meinen Eltern«, wandte Mattia mit wenig Nachdruck ein.
    »Da fahr ich dich später hin. Jetzt musst du dich erst ausruhen.«
    »Ich muss …«
    »Sei ruhig.«
    Sie stiegen aus und tauschten die Plätze. Die Dunkelheit hatte den Himmel vollständig erobert, bis auf einen schmalen Streifen längs des Horizonts.
    Die ganze Fahrt über wechselten sie kein Wort mehr miteinander. Mattia hatte die rechte Hand vor die Augen gelegt, während Mittelfinger und Daumen die Schläfen zusammenpressten. Wieder und wieder las er die Warnung am Spiegel. Objects in the mirror are closer than they appear . Er dachte an den Artikel, den zu schreiben er ganz Alberto überlassen hatte. Mit Sicherheit würden ihm Fehler unterlaufen, er musste so schnell wie möglich zurück. Und dann waren da noch die Vorlesungen, die er auszuarbeiten hatte, und seine Wohnung, die ihm Ruhe bot.
    Hin und wieder wandte Alice den Blick von der Straße
ab und sah ihn besorgt an. Sie bemühte sich, behutsam zu fahren. Kurz überlegte sie, ob sie nicht vielleicht Musik anstellen sollte, wusste aber nicht, was er gern hören würde. Im Grunde wusste sie nichts mehr von ihm.
    Vor dem Haus machte sie Anstalten, ihm aus dem Wagen zu helfen, aber er schüttelte den Kopf und stieg allein aus. Während sie schon die Haustür öffnete, stand er ein wenig wankend hinter ihr. Alles, was sie tat, geschah flink und aufmerksam. Sie fühlte sich verantwortlich, als wäre das alles die unerwartete Folge eines dummen Streiches.
    Drinnen im Wohnzimmer warf sie ein paar Kissen zu Boden, um ihm Platz auf dem Sofa zu machen.
    »Leg dich hier hin«, forderte sie ihn auf, und er gehorchte.
    Sie ging in die Küche, um ihm einen Kamillentee oder schwarzen Tee zu machen oder sonst etwas, das sie in der Hand halten konnte, wenn sie ins
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