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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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aufgestickten Initialen FR , einige Zentimeter von der Ecke entfernt, mit der Winkelhalbierenden als Symmetrieachse.
    Mattia drehte sich um und fand ein zweites Handtuch, das genauso aussah und an der gleichen Stelle die Initialen ADR aufgestickt hatte.

    Jetzt schaute er sich genauer um. In dem Becher mit dem Kalkrand befand sich nur eine Zahnbürste, und daneben stand ein kleiner Korb mit den unterschiedlichsten Dingen darin: Cremedöschen, ein roter Haargummi, eine Bürste mit Haaren zwischen den Borsten, ein Nagelscherchen. Auf der Ablage unter dem Spiegel aber lag ein Nassrasierer, unter dessen Klinge noch millimeterlange Reste dunkler Barthaare klemmten.
    Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da konnte er, wenn er neben Alice auf ihrem Bett sitzend seinen Blick durch ihr Zimmer schweifen ließ, auf jedem Bord etwas ausmachen, von dem er wusste: Das hab ich ihr gekauft. Geschenke, die ihren Weg markierten, wie spitze Fähnchen auf einer Karte die Etappen einer Reise. Sie standen für die regelmäßige Wiederkehr von Weihnachtsfesten und Geburtstagen. An einige Geschenke konnte er sich sogar noch erinnern: die erste Platte der Counting Crows, ein Galileo-Thermometer mit seinen bunten, in einer transparenten Flüssigkeit schwimmenden Glaskörpern und ein Buch zur Geschichte der Mathematik, das Alice mit einem Stöhnen entgegengenommen, schließlich aber doch gelesen hatte. All seine Geschenke hob sie sorgfältig auf, fand einen gut sichtbaren Platz für sie, sodass sie diese immer vor Augen hatte. Und Mattia entging das nicht. Er wusste das alles, schaffte es aber nicht, sich von der Stelle zu rühren. Als würde er, wenn er Alices Werben nachgab, in eine Falle gehen, in der er sich für immer verlöre. Gleichgültig, schweigend, hatte er so lange gewartet, bis es irgendwann zu spät war.
    Und jetzt war um ihn herum kein einziger Gegenstand mehr, den er kannte. Er betrachtete sein Spiegelbild, seine zerzausten Haare, den ein wenig schiefen Hemdkragen, und
plötzlich verstand er. In diesem Bad, in diesem Haus und ebenso in der Wohnung seiner Eltern, an all diesen Orten, gab es nichts mehr, das zu ihm gehörte.
    Eine Weile stand er reglos da, um sich an die Entscheidung zu gewöhnen, die er getroffen hatte. Dann legte er sorgfältig das Handtuch zusammen und wischte mit dem Handrücken die Tropfen fort, die er im Waschbecken hinterlassen hatte.
    Er verließ das Bad und durchquerte den Flur. Auf der Schwelle zum Wohnzimmer blieb er stehen.
    »Ich muss los«, sagte er.
    »Ja«, antwortete Alice, als hätte sie sich dieses Wort bereits zurechtgelegt.
    Die Kissen lagen an ihrem Platz auf der Couch, und der ganze Raum war erhellt von einer großen Deckenlampe. Alle verdächtigen Spuren waren gelöscht. Der Tee auf dem Couchtisch war kalt geworden, und auf dem Tassenboden hatte sich eine dunkle, zuckrige Substanz abgesetzt. Es war einfach nur das Zuhause eines anderen, dachte Mattia.
    Zusammen gingen sie zur Tür. Sie blickten sich an, und Mattia streifte ihre Hand.
    »Die Nachricht, die du mir geschickt hast …«, begann er. »Gibt es da etwas, was du mir sagen musst?«
    Alice lächelte.
    »Nein, nichts Besonderes.«
    »Aber als ich kam, hast du gesagt, dass es wichtig sei.«
    »Nein, nein.«
    »Hatte es mit mir zu tun?«
    Sie zögerte einen Moment.
    »Nein«, sagte sie dann. »Nur mit mir.«
    Mattia nickte. Er dachte an ein Potenzial, das sich nicht entfaltet hatte, an die unsichtbaren Feldlinien, die sie früher
auch auf die Entfernung verbunden hatten und jetzt verschwunden waren.
    »Ciao dann«, sagte sie.
    Alles Licht war drinnen und alle Dunkelheit draußen. Mattia hob nur die Hand. Bevor Alice wieder hineinging, sah sie noch den dunklen Kreis, der auf seine Handfläche gezeichnet war, wie ein mysteriöses, unauslöschliches und auf ewig unzugängliches Mal.

46
    Das Flugzeug hob mitten in der Nacht ab, und die wenigen schlaflosen Menschen, die die Maschine von der Erde aus bemerkten, sahen nichts als eine kleine Ansammlung blinkender Lichter vorüberziehen, wie eine Sternschnuppe vor dem Hintergrund eines dunklen, reglosen Himmels. Niemand hob die Hand, um ihr zuzuwinken, ein Einfall, der nur Kindern hätte kommen können.
    Mattia stieg ins erste der Taxis, die in einer Reihe vor dem Terminal warteten, und nannte dem Fahrer das Ziel. Als sie die Uferstraße am Meer entlangfuhren, war am Horizont schon ein schwacher Schimmer sichtbar.
    » Stop here, please «, bat er den Taxifahrer.
    » Here? «
    » Yes. «
    Er
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