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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
Autoren: Paolo Giordano
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wir’s.«
    Alice lachte. Sie stiegen aus, um die Plätze zu tauschen, und Mattia schritt um den Wagen herum, wobei er den Kopf übertrieben tief hängen ließ, um seine ganze Schicksalsergebenheit zu demonstrieren. Zum ersten Mal fanden sich beide jetzt in der Rolle des jeweils anderen wieder, zeigten
sich dem anderen mit dem Profil, das sie für das richtige hielten.
    »Also, damit kenne ich mich wirklich nicht aus«, stöhnte Mattia, während er mit erhobenen Armen vor dem Lenkrad saß, so als wüsste er tatsächlich nicht, wo die Hände hinzulegen waren.
    »Überhaupt nicht? Kein bisschen? Du bist also wirklich noch kein einziges Mal gefahren?«
    »Nein, eigentlich nicht.«
    »Dann wird’s schwierig.«
    Alice lehnte sich zu ihm vor, und einen kurzen Moment lang betrachtete Mattia ihr exakt senkrecht, dem Erdmittelpunkt entgegenfallendes Haar. Unter dem T-Shirt, das ein wenig hochgerutscht war, erkannte er den oberen Rand der Tätowierung auf ihrem Bauch, die er vor langer Zeit einmal aus nächster Nähe gesehen hatte.
    »Du bist so dünn«, sagte er so unwillkürlich, als denke er laut.
    Alice fuhr herum, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen.
    »Wieso?«, sagte sie achselzuckend, »so wie immer eben.«
    Sie zog sich ein wenig zurück und zeigte auf die drei Pedale am Boden.
    »Pass auf. Das sind Kupplung, Bremse und Gas. Der linke Fuß ist nur für die Kupplung, der rechte für die anderen beiden.«
    Mattia nickte, immer noch ein wenig abgelenkt durch die Nähe ihres Körpers und den Duft eines Schaumbads, den sie verströmte.
    »Wie die Gänge liegen, weißt du vielleicht? Außerdem steht’s hier noch mal auf dem Knüppel. Erster, zweiter, dritter.
Das wird für den Anfang reichen«, fuhr Alice fort. »Wenn du schalten willst, trittst du auf die Kupplung und lässt sie dann langsam wieder kommen. Wenn du den Motor anlässt, genauso: Du drückst also die Kupplung ganz durch, und während du loslässt, gibst du gleichzeitig ein wenig Gas. Also, bist du bereit?«
    »Was bleibt mir anderes übrig?«, brummte Mattia.
    Er versuchte, sich zu konzentrieren, und war nervös wie vor einer Prüfung. Im Laufe der Jahre war er stetig mehr zu der Überzeugung gelangt, außerhalb seines Elements, der geordneten, unendlichen Mengen der Mathematik, zu gar nichts zu taugen. Üblicherweise gewannen die Leute mit dem Lebensalter an Selbstsicherheit, während sie bei ihm zurückzugehen schien, als handelte es sich dabei um eine nicht erneuerbare Ressource.
    Er schätzte die Entfernung, die sie von den Klapptischen an der Wand trennte. Mindestens fünfzig Meter. Auch wenn er mit voller Geschwindigkeit losschoss, würde er also noch Zeit zum Bremsen haben. Zu spät ließ er den Zündschlüssel los, und mit einem lauten Kratzen des Anlassers sprang der Wagen an. Dann ließ er sanft die Kupplung kommen, gab aber nicht genügend Gas, und seufzend verstummte der Motor wieder. Alice lachte.
    »Fast. Nur noch ein wenig entschlossener.«
    Mattia atmete tief durch und versuchte es erneut. Ein Ruck, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Kupplung und zweiter Gang, befahl Alice. Mattia schaltete und beschleunigte wieder. Er fuhr weiter, geradeaus auf die Wand zu, und erst als sie vielleicht noch zehn Meter von ihr entfernt waren, beschloss er, am Lenkrad zu drehen. Eine Hundertachtzig-Grad-Kurve, die sie beide zu einer Seite schleuderte,
und schon waren sie wieder unterwegs zu der Stelle, von der sie losgefahren waren.
    Alice klatschte in die Hände.
    »Na siehst du?«, rief sie.
    Er lenkte wieder, und noch einmal drehten sie dieselbe Runde. Etwas anderes schien ihm nicht einzufallen, als dieser engen, ovalen Bahn zu folgen, obwohl ihm eine riesige leere Fläche zur Verfügung stand.
    »Fahr geradeaus weiter«, befahl ihm Alice, »auf die Straße.«
    »Bist du wahnsinnig?«
    »Was denn? Da ist doch alles leer. Außerdem hast du ja jetzt schon Fahren gelernt.«
    Mattia nahm das Steuer fester in die Hand. Er spürte seine schweißnassen Hände auf dem Kunststoff und das Adrenalin, das seine Muskeln stimulierte, wie er es lange nicht erlebt hatte. Einen Augenblick lang dachte er, dass er jetzt tatsächlich ein Auto fuhr, mit allem, was dazugehörte, den Kolben und der ganzen gut geschmierten Mechanik, und dass er Alice bei sich hatte, ganz nahe, und sie ihm sagte, was er tun sollte. Es war so, wie er es sich häufig vorgestellt hatte. Nein, eigentlich nicht ganz genauso, aber er beschloss, heute einmal nicht auf Ungenauigkeiten zu
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