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Super Sad True Love Story

Super Sad True Love Story

Titel: Super Sad True Love Story
Autoren: Gary Shteyngart
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GEH NICHT GELASSEN
    Aus dem Tagebuch des Lenny Abramov
    1.   Juni
    Rom   – New York
     
    Liebstes Tagebuch,
     
    heute habe ich eine wichtige Entscheidung getroffen:
Ich werde niemals sterben.
    Um mich herum werden andere sterben. Von ihrer Persönlichkeit wird nichts überdauern. Sie werden genullt, ihr Licht wird ausgeknipst werden. Ihr Leben, ihr gesamtes Sein, wird auf marmornen Hochglanzgrabsteinen falsch summiert («ihr Stern leuchtete hell», «werden Dich nie vergessen», «er hörte gern Jazz»), und irgendwann werden auch diese vom Meer überflutet oder von einem genmanipulierten Truthahn der Zukunft in Stücke gehackt sein.
    Lass dir nicht weismachen, das Leben sei eine Reise. Bei einer Reise kommt man
irgendwo
an. Wenn ich die Linie 6 nehme und zu meiner Sozialtherapeutin fahre, ist
das
eine Reise. Wenn ich in diesem klapprigen UnitedContinentalDeltamerican-Flieger, der sich gerade vibrierend über den Atlantik quält, den Piloten anflehen würde, zu wenden und direkt nach Rom zurückzusteuern, in die wankelmütigen Arme von Eunice Park, wäre
das
eine Reise.
    Aber Moment mal. Da ist noch mehr, oder? Unser Erbe. Wir sterben nicht, denn unsere Nachkommen leben weiter. Die rituelle Weitergabe des Erbgutes, Mamas Korkenzieherlocken, Großvaters Unterlippe,
ah buh-lieve thuh chil’ren ah our future
. Ich zitiere hier aus «The Greatest Love ofAll», dem neunten Stück auf der Debüt-LP von Whitney Houston, der Popdiva der Achtziger.
    Totaler Quatsch. Kinder sind nur im allerengsten, transitiven Sinn unsere Zukunft. Sie sind es nur so lange, bis sie selbst ins Gras beißen. Die nächste Zeile des Songs fordert den Hörer dazu auf, «ihnen viel beizubringen und sie dann vorausgehen zu lassen», also das eigene Selbst zugunsten der zukünftigen Generationen aufzugeben. Wenn man sagt: «Ich lebe für meine Kinder», gibt man im Grunde zu, dass man in Kürze tot sein wird, dass das eigene Leben praktisch schon gelaufen ist. «Ich sterbe nach und nach für meine Kinder» wäre treffender.
    Was sind unsere Kinder überhaupt? Entzückend und unverbraucht in ihrer Jugend; der Sterblichkeit gegenüber blind; wälzen sich, darin Eunice Park nicht unähnlich, mit ihren Alabasterbeinen durchs hohe Gras; Rehkitze, anmutige Rehkitze, alle miteinander, strahlend in ihrer verträumten Künstlichkeit, eins mit der oberflächlich simplen Natur ihrer Welt.
    Und dann, nicht mal ein Jahrhundert später, sabbern sie in einem Hospiz in Arizona eine arme mexikanische Altenpflegerin voll.
    Genullt. Wusstest du, liebes Tagebuch, dass jeder friedliche, natürliche Tod im Alter von 81   Jahren eine unvergleichliche Tragödie darstellt? Jeden Tag fallen Menschen, Individuen –
Amerikaner
, falls dir das nähergeht – auf dem Schlachtfeld Gesicht voran in den Staub und stehen nie wieder auf. Existieren nie wieder. Komplexe Charaktere, in deren Großhirnrinde schillernde Welten schweben, ganze Universen, die unsere Schafe hütenden, Feigen essenden, analogen Vorfahren zu Boden gestreckt hätten. All diese Leute sind kleine Gottheiten, Gefäße der Liebe, Lebensspender, unbesungene Genies, Helden der Arbeit, diemorgens um sechs Uhr fünfzehn aufstehen, um die Kaffeemaschine anzuwerfen, und stumme Gebete sprechen, damit sie den nächsten Tag noch erleben und auch noch den übernächsten und Sarahs Examensfeier, und dann   …
    Genullt.
    Aber nicht mit mir, liebes Tagebuch. Glückliches Tagebuch. Unwürdiges Tagebuch. Von diesem Tage an wirst du einen nervösen, durchschnittlichen Mann von ein Meter fünfundsiebzig Körpergröße, 73   Kilogramm Körpergewicht und einem nicht ganz ungefährlichen Body-Mass-Index von 23,9 auf seinem bisher größten Abenteuer begleiten. Warum «von diesem Tage an»? Weil ich gestern Eunice Park kennengelernt habe und sie mich für immer und ewig durchhalten lassen wird. Schau mich gut an, Tagebuch. Was siehst du? Einen schmächtigen Mann mit grauem Gesicht, eingefallen wie eine alte Festung, mit eigenartig feuchten Augen, riesiger glänzender Stirn, auf der ein Dutzend Höhlenmenschen hübsche Zeichnungen hätten hinterlassen können, einer Sichelnase, die über winzigen Kräusellippen thront, und, am Hinterkopf, einer immer größer werdenden Kahlstelle exakt in der Form des Bundesstaates Ohio, dessen Hauptstadt Columbus ein dunkelbrauner Leberfleck markiert.
Schmächtig.
Mein Fluch, in jeder Hinsicht. Ein gewöhnlicher Körper in einer Welt, in der man einen ungewöhnlichen braucht. Ein Körper im
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