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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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Hundes, das von Ferne durch die Mauern drang. Er befreite sich von der Decke, in die er sich verheddert hatte, und tastete mit den Händen auf der Kommode neben dem Bett herum, bis er die Phosphorhölzer fand und den Messinghalter mit der Talgkerze. Mit zitternden Fingern versuchte er, ein Hölzchen aus der Dose zu nehmen, verschüttete dabei einige, bis es ihm endlich gelang, eines anzuzünden und an den Docht zu halten. Im ersten Augenblick, als die Flamme flackerte und seltsame Schatten über die Wände huschten, schienen die Ungeheuer zu tanzen, aber dann brannte das Nachtlicht gleichmäßig, der Baron erkannte die Einzelheiten seines Schlafzimmers und beruhigte sich einigermaßen.
    An Schlaf war aber nicht mehr zu denken. Seine Panik war einer angespannten Aufmerksamkeit gewichen. Die Welt war zurechtgerückt, und er wusste wieder, dass er sich vor nichts anderem fürchtete als vor seinen eigenen Erinnerungen. Genaugenommen war es nur eine, eine ganz bestimmte Erinnerung. Er war damals zehn Jahre alt und hätte in Begleitung einer Magd ins Südtirol reisen sollen. Die Reise war zu einem Albtraum geworden. Gegen die Erinnerung würde nur Beschäftigung helfen. Er wusste nicht, wie weit die Nacht vorangeschritten war, aber er hatte keine Wahl. Er zog das Nachthemd aus, schlüpfte in seine Kleider, in die Schuhe, band sich vor dem Spiegel das Halstuch um, legte den Gehrock an und hängte sich zum Schluss die Degenkoppel mit der Messingschnalle um. Dann nahm er das Nachtlicht und verließ geräuschlos das Zimmer. Er durchquerte das große Entrée und betrat die Stube, deren Fenster auf die Süßwinkelgasse hinausgingen. Draußen war es finster. Als der Baron endlich fertig angezogen und gerüstet im Sessel saß, das Nachtlicht auf dem Sims neben sich, und die neueste Ausgabe der Churer Zeitung in die Hand nahm, war er gefasst und bereit, jeder Aufgabe und jedem Problem gegenüberzutreten.
    Wie gewohnt, begann er die Zeitung auf der letzten Seite zu lesen. Er überflog die kurzen Meldungen aus der Umgebung. Ein Unglücksfall hatte sich ereignet: Im Waisenhaus der Stadt Chur war eine Frau in einen Kessel mit siedender Lauge gefallen und bald darauf unter unsäglichen Schmerzen gestorben. Der Baron hatte bereits davon gehört. Ein tragisches Missgeschick.
    Er entdeckte eine Ankündigung der Buchhandlung und Druckerei Orell, Füßli und Compagnie aus Zürich. Vom Monat Juli an würde die Neue Zürcher Zeitung dreimal wöchentlich erscheinen und nebst dem Kern der Neuheiten aus dem Ausland besonders auch die Nachrichten aus der Schweiz enthalten. Der Preis des halben Jahrgangs wurde auf sechs Schweizerfranken festgelegt. Die Redaktion der Neuen Zürcher Zeitung , so wurde angekündigt, wolle sich alle Mühe geben, ihren werten Lesern in bündiger Kürze das Wichtigste der Zeitbegebenheiten, nach Tatsachen, ohne Parteilichkeit und Leidenschaft, in würdiger, ernster, aber freier Sprache und mit möglichster Schnelligkeit mitzuteilen.
    Er blätterte weiter durch die Zeitung und überflog die Überschriften. Auf einer Seite blieb er plötzlich hängen: Napoleon Bonaparte, ehemals Kaiser der Franzosen, war am 5. Mai dieses Jahres auf der Insel St. Helena gestorben. Es hieß, er habe sich in seiner letzten Stunde die Uniform anziehen und den Degen umgürten lassen. General Bonaparte, so wurde aus verlässlicher Quelle berichtet, habe als Soldat sterben wollen.
    Baron Johann Heinrich von Mont, dreiunddreißig Jahre alt, saß auf einem Sessel in seinem Wohnzimmer, mitten in der Nacht, vollständig bekleidet mit einem eng geschnittenen taubenblauen Gehrock, dessen schwarze Naht und schwarze Knöpfe den Uniformcharakter unterstrichen, und mit umgehängtem Degen zum Ausgang gerüstet. Er ließ die Zeitung sinken, betrachtete im Fensterglas sein eigenes Spiegelbild und fühlte sich ertappt.
    Obwohl er seine juristische Ausbildung und Karriere im bayerischen Königreich und davor in der Habsburger Monarchie absolviert hatte, bei Kriegsgegnern der Franzosen mithin, und obwohl die Franzosen verheerendes Unheil über Graubünden gebracht hatten, hegte der Baron große Bewunderung für Napoleon. Er sah in ihm einen genialen Feldherrn von schier unerschöpflicher Energie. Darin war er sich mit seinem Herrn Vater einig. Peter Anton Moritz von Mont war früher Offizier in der französischen Schweizergarde gewesen.
    Etwas Napoleonisches wollte er in sich selbst sehen, der Herr Baron, ein unermüdlicher Feldherr gegen Unordnung,
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