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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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ihren Familien, Mägden und Knechten schliefen. Er wusste auch, dass das Vieh in wenigen Tagen weiter den Berg hinaufgetrieben würde. Noch standen die Alpwiesen leer. Das Gras war dieses Jahr nur langsam gewachsen. Der Winter war lange und kalt gewesen, der Schnee auf den Schattenseiten der Täler bis in den Sommer hinein liegen geblieben.
    Nebelfetzen trieben über die Weiden, sie waren nicht zu sehen, aber als kalter Hauch im Gesicht zu spüren, und von irgendwo her war ein leises Flattern wie von Vogel-schwingen zu vernehmen. Wer in dieser Nacht unterwegs war, der musste froh sein, nicht gesehen zu werden. Wer nämlich angehalten wurde und keinen redlichen Grund nennen konnte, wohin und weswegen er so spät unterwegs war, wurde als lichtscheues, übles Gesindel beschimpft, von dem es in diesen Zeiten jede Menge gab. Seit Napoleons Armee Graubünden mit Krieg, Zerstörung und Verderben überzogen hatte, waren die Landstreicher zu einer Plage geworden. Deserteure, vertriebene Bauern, verarmte Handwerksleute auf der Wanderschaft und halbwüchsige Waisen – alle versuchten sie, irgendwie zu überleben. Von dem, was sie zufällig fanden, oder was sie sich mit List oder Gewalt aneignen konnten. Sie hatten nicht viel vom Leben zu erwarten, höchstens die Peitsche, den Pranger oder, wenn einer Gemeinde die Geduld gerade ausgegangen war, gar einen Strick an einem starken Ast.
    Bald würden die Bauern aus Laax für einen kurzen Sommer ihre Alp wieder in Besitz nehmen, sie würden die Fenster und Türen öffnen und den Wind durch Hütte und Stall ziehen lassen. Der Senn würde das Fehlen eines Kupferkessels bemerken und sich fragen, ob sie den Kessel vergangenen Herbst ins Tal mitgenommen hatten. Auch wenn sie das sonst nie taten. Plötzlich würde einer feststellen, dass ein Fensterladen aufgebrochen war. Im grauverwitterten Holz waren helle Kerben zu sehen, von einem Hebel oder einer Waffe.
    2 Ich, Baron Johann Heinrich von Mont, geboren auf Schloss Löwenberg in Schleuis, schwöre hier und jetzt vor Gott dem Allmächtigen und Allwissenden und vor dem Kleinen Rat des Kantons Graubünden, dass ich alle Pflichten meines Amtes als Kantonsverhörrichter sowie die besonderen mir von kompetenten Standesbehörden erteilten Aufträge getreulich erfüllen, den Nutzen des Kantons befördern und seinen Schaden abwenden, besonders aber, dass ich die vorfallenden Kriminaluntersuchungen unter Beachtung eines ordnungsmäßigen Rechtsganges und mit tunlichster Beförderung führen, danach angemessene Anklage abfassen, und in den Fällen, in welchen ich als Mitrichter aufzutreten habe, nach reifer Überlegung aller aus dem geführten Prozess sich ergebenden Umstände, nach Recht und Gerechtigkeit, best meines Wissens und Gewissens, erkennen und urteilen will, wie ich es mir getraue, dies dereinst vor Gottes gerechtem Richterstuhl zu verantworten –
    3 Der Baron wälzte sich im Schlaf unruhig hin und her. Seine Gemahlin, geborene Gräfin Josepha von Salis-Zizers, nun Baronin von Mont, lag neben ihm und schnarchte. Es war ein feines Damenschnarchen, leise und regelmäßig. Davon wurde der Hausherr nicht wach, aber er schlief sehr unruhig. Der Baron kämpfte im Traum mit Gespenstern, die ihn seit seiner Kindheit heimsuchten, auch mit solchen aus jüngerer Zeit. Bedrückend waren sie alle. Er kämpfte gegen sie und gegen die Decke, in die er sich unglücklich verwickelt hatte, und stöhnte. Erholsam war das nicht. Wenn einer seine Probleme, die er tagsüber nicht lösen konnte, mit in den Schlaf nahm, dann wurde auch das Schlafen zu schwerer Arbeit. Wieso konnte er seine Probleme nicht tagsüber lösen? War er vielleicht zu faul, unbegabt, ungeschickt oder alles zusammen? Vor solchen Unzulänglichkeiten war auch der Adel nicht gefeit.
    Aber bei ihm lagen die Dinge anders. Die Aufgaben waren zu groß, und die Mittel, über die er zu ihrer Bewältigung verfügte, waren lächerlich klein. Zuviel lastete auf seinen Schultern (die auch nicht übermäßig breit waren). Der Baron war für die Ordnung und Sicherheit im größten Kanton der Schweiz verantwortlich. Er war Verhörrichter, oberster Ankläger, Polizeidirektor und Leiter der Zuchtanstalt Sennhof. Die Obrigkeiten und die Einwohner verließen sich darauf, dass er das Böse, Schlechte, Gefährliche, Gesetzeswidrige von ihnen fernhielt. Niemanden kümmerte es, wie er dies mit nur zwanzig Landjägern schaffen sollte, in einem Berggebiet mit hundertfünfzig Tälern und vier Dutzend
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