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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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Ungesetzlichkeit und Zwielicht, ein Soldat im Kampf gegen das Ungefähre, das Undurchschaubare und Ungreifbare. Als Zehnjähriger war er von Graubünden nach Meran ins Gymnasium gegangen und hatte sich brennend für das Recht zu interessieren begonnen. Die Reise selbst stand damals unter einem denkbar unglücklichen Stern (nicht daran denken!), was sein Interesse an der Justiz aber noch entschieden beförderte. Nach dem Gymnasium studierte er in Innsbruck, danach in Landshut, und in München legte er seine Staatsprüfung ab. Obwohl er Assistent beim Oberappellationsgericht wurde und eine glänzende Karriere in königlich bayerischen Staatsdiensten vor ihm lag, hatte er sich vor drei Jahren entschieden, nach Graubünden zurückzukehren und hier das Amt als Verhörrichter und Polizeidirektor zu übernehmen. Es war noch schwieriger, als er es sich vorgestellt hatte. In den Gerichtsgemeinden des Kantons herrschten Anarchie und Missbrauch. Recht wurde nach Gutdünken gesprochen. Die einflussreichen Familien in den entlegenen Talschaften und Gemeinden wollten weder Macht abtreten noch Geld abführen. Besonders die Katholischen (zu denen er selbst auch gehörte) versuchten, die Anstrengungen des Kantons zu verhindern oder wieder abzuschaffen: Kantonsschule, Sanitätswesen, Polizei.
    Der Baron musste behutsam vorgehen und die Autorität seines Amtes langsam, aber beständig ausdehnen. Dafür brauchte er mehr Männer, die unter seiner Führung richtig zupacken konnten. Tatkräftige Soldaten im Kampf gegen das Unrecht. Landjäger wie Venzin und Arpagaus. Er brauchte entschieden mehr Landjäger, als die Kantonsregierung ihm bisher zugebilligt hatte.
    4 Auf der Straße, die vom Bodensee das Rheintal hinauf führte, gingen zwei recht ungleiche Männer nebeneinander her. Der eine war ein baumlanger Kerl mit breitem Kreuz, der andere von schlanker Gestalt, mit hellem, wildem Lockenkopf und einem Backenbart, wie er zur Zeit Mode war. Während der Lange drei Schritte machte, nahm der Blonde vier, so blieben sie gleichauf. Das ergab einen eigenartigen Rhythmus, der sie aber nicht zu stören schien. Wortlos schritten sie nebeneinander her, nicht so frisch und beschwingt wie am ersten Tag, aber mit einem festen Ziel vor Augen. Sie wollten ankommen, wie müde Pferde mit Stalldrang. Seit mehreren Wochen schon waren sie unterwegs, unermüdlich in brütender Sonne und bei Regen. Sie gingen mit dem Nordwind im Rücken oder mit dem Südwind im Gesicht. Sie marschierten bei Tag und schliefen nachts im Freien unter Bäumen, in Heuställen und, selten genug, in einem Bett.
    Sie waren Richtung Süden unterwegs, in die Heimat. Von Bergen op Zoom, wo sie die letzten vier Jahre in der königlich-niederländischen Armee gedient hatten, immer rheinaufwärts durch die deutschen Fürstentümer bis zum Bodensee und von dort weiter das Rheintal hinauf. Gut versteckt am Leib trug jeder von ihnen, was er an Sold gespart hatte, und ein Transitschreiben mit Unterschrift und Siegel des Obersten Jakob von Sprecher, dem Befehlshaber des Bündner Regiments in der Armee König Wilhelms I.
    Linus Hostetter und Karl Rauch – so hießen der Blonde und der Lange – hatten sich zusammen mit anderen jungen Bündnern anwerben lassen. Nach Ablauf der vereinbarten Dienstzeit hätten sie nun im Frühjahr in die Ostindische Kompanie eintreten können. Aber das Heimweh und die Sehnsucht nach einer vertikalen Landschaft zogen sie zurück in die Berge.
    Der kleine Karli, wie er trotz seiner enormen Körpergröße zu Hause genannt wurde, hatte als elftes und jüngstes Kind eines Lugnezer Bergbauern ein hartes Leben gehabt. Mit neun wurde er an einen Allgäuer Großbauern als Kuhhirte verdingt, sechs Jahre später, in denen er Hunger, Schläge und Schlimmeres auszuhalten hatte, bekam er eine geflickte Jacke und ein paar gebrauchte Schuhe und wurde mit einem fahrenden Händler nach Graubünden zurückgeschickt.
    Zum Glück ließ sich ein Vetter seines Vaters darauf ein, ihn als Lehrjungen anzunehmen. Onkel Mohn war Mitglied der Churer Schmiedezunft und dachte sich, dass ein so großer stämmiger Kerl mit einem breiten Kreuz durchaus geeignet sei, schwerknochige Kutschpferde zu beschlagen. Das erste Jahr hatte Karli denn auch nichts anderes zu tun, als das Bein des Pferdes festzuhalten, während Onkel Mohn oder sein Geselle den Huf beschlug. Er hatte alle Zeit der Welt, um zuzuschauen, wie man das richtig anstellte. Tag für Tag stand er in gebückter Haltung neben dem Pferd und
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