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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis
Autoren: Giles Blunt
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    Z uerst kam die Wärme. Gerade mal drei Wochen nach Silvester, und es geschah etwas für diese Jahreszeit ganz und gar Ungewöhnliches: Das Thermometer stieg über den Gefrierpunkt. Innerhalb weniger Stunden glänzten die Straßen in Algonquin Bay schwarz von geschmolzenem Schnee.
    Und keine Spur von Sonne. Über dem Turm der Kathedrale hing eine Wolkendecke, die, so schien es, nie mehr weichen wollte. In den milden Tagen, die folgten, herrschte vom Frühstück bis in den späten Nachmittag hinein ein beklemmendes Zwielicht. Alle munkelten vom Klimawechsel.
    Dann kam der Nebel.
    Zunächst strich er in zarten Bändern durch die Wälder rund um Algonquin Bay. Am Samstagnachmittag wogte er bereits in dicken Schwaden über die Highways. Die endlose Weite des Lake Nipissing schrumpfte zu einer blassen Silhouette, um schließlich ganz zu verschwinden. Langsam quoll der Nebel in die Stadt, unerbittlich drückte er sich an Kaufhäusern und Kirchen empor. Haus für Haus zogen sich die roten Backsteinbauten hinter den schmutzig grauen Vorhang zurück.
    Am Montagmorgen konnte Ivan Bergeron nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Er war spät aus dem Bett gekommen, weil er am Abend zur Übertragung des Hockeyspiels ein Bier zu viel getrunken hatte. Jetzt ging er vom Haus in seine Werkstatt hinüber, die der Nebel völlig verschluckt hatte, obwohl sie keine zwanzig Meter entfernt lag. Das Zeug klebte ihm wie Spinnweben an Gesicht und Händen und waberte ihm durch die Finger. Und es trieb seltsame Spielchen mit Geräuschen. Gelbe Scheinwerferkegel schwebten in Zeitlupe vorbei, bevor, mit gespenstischer Verspätung, das Quietschen von Reifen auf nasser Fahrbahn folgte.
    Irgendwo bellte sein Hund. Normalerweise war Shep einruhiger, unaufdringlicher Bursche. Doch aus irgendeinem Grund – vielleicht wegen des Nebels – lief er draußen im Wald herum und bellte wie verrückt. Der Lärm drang Bergeron wie Nadeln in den verkaterten Schädel.
    »Shep! Hierher, Shep!« Er wartete einen Moment in der grauen Suppe, doch der Hund kam nicht.
    Bergeron machte die Werkstatt auf und ging zu dem ramponierten Skimobil, das er eigentlich schon bis letzten Donnerstag hätte reparieren sollen. Der Eigentümer wollte den Motorschlitten mittags abholen, und das Ding lag immer noch, in alle Einzelteile zerlegt, quer über den Boden verstreut.
    Er machte das Radio an, und die Stimmen der CBC tönten durch den Raum. Wenn es warm genug war, ließ er das Garagentor bei der Arbeit meistens offen, doch der Nebel wälzte sich wie eine Spukgestalt über die Schwelle, und er fand das deprimierend. Er wollte das Tor gerade herunterziehen, als das Bellen des Hundes lauter wurde und so klang, als käme es nunmehr aus dem Garten.
    »Shep!« Bergeron watete durch den Dunst, eine Hand wie ein Blinder ausgestreckt. »Shep! Herrgott noch mal, bist du wohl still!«
    Das Bellen ging in Knurren über, in das sich ein eigentümliches Winseln mischte. Bergeron durchlief eine Woge des Unbehagens. Das letzte Mal, als so etwas passierte, hatte er seinen Hund dabei erwischt, wie er mit einer Schlange spielte.
    »Shep! Ist ja gut, mein Junge, ich komm ja schon.«
    Langsam tastete er sich wie auf einem Felsvorsprung weiter. Er blinzelte in den Nebel.
    »Shep?«
    Er konnte den Hund – in zwei Meter Entfernung – so gerade eben erkennen, und er sah, dass er die Vorderläufe auf dem Boden ausgestreckt hatte und etwas zwischen den Pfoten hielt. Bergeron arbeitete sich näher heran und fasste ihn am Halsband.
    »Ruhig, mein Junge.«
    Der Hund winselte leise und leckte ihm die Hand. Bergeron bückte sich tiefer, um den Fund auf dem Boden besser sehen zu können.
    »Oh, mein Gott!«
    Er lag da, weiß wie der Bauch eines Fischs, auf einer Seite von gekräuseltem Haar bedeckt. Kurz vor dem Ende mit dem Handgelenk waren noch die gezackten Abdrücke einer Uhr mit Gliederarmband auf der Haut zu erkennen. Auch wenn die Hand fehlte, lag dort, mitten in Ivan Bergerons Garten, unverkennbar ein menschlicher Arm.
     
    Nur weil Ray Choquette beschlossen hatte, in Pension zu gehen, saß John Cardinal mit seinem Vater in diesem Wartezimmer fest. Er hätte längst drüben im Polizeipräsidium sein können, um die eingegangenen Anrufe abzuhören, oder – noch besser – draußen auf der Straße, um einem der bösen Finger rings um Algonquin Bay das Leben schwer zu machen. Aber nein, er hing hier fest, hatte seinen Vater am Hals und wartete auf eine Ärztin, die sie beide noch nicht zu Gesicht
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