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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
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aussahen. Mit Ausnahme jener Engländer natürlich, die darauf bestanden, graue Hosen zu dem schwarzen oder mitternachtsblauen Jackett zu tragen, ein Stil, den sie »Oxford Grey« nannten.
    In so einem Zusammenhang waren Albie und er sich erstmals begegnet. Sie trugen beide keinen Smoking, sondern hatten sich deutlich mehr ins Zeug gelegt und tauschten sich recht ausgiebig über die Schneidereien in der Stadt aus.
    Eins führte zum anderen. Albie war in der Kolonie englischer Ingenieursstudenten beliebt und lud öfter als die anderen nach Veranstaltungen zu sich nach Hause ein. Das konnte er sich auch erlauben. Er wohnte in einer großen Wohnung mitten in der Stadt und hatte sowohl einen Butler als auch eine Haushälterin. Das war bei den Engländern nichts Ungewöhnliches, die ausnahmslos aus wohlhabenden Familien zu kommen schienen und erklärten, dass man seine Studien in Oxford und Cambridge ebenfalls auf diese Weise organisiere. Die Feste der englischen Studenten waren entweder rauschend und glamourös oder, wie oft bei Albie, ruhiger und philosophisch. Es wurde zwar auch gerne getrunken, aber mäßiger. Ab und zu hörte man bis spät in die Nacht Grammofonmusik oder las Gedichte vor, deutsche und englische.
    Es war ein angenehmes Beisammensein, und Albie war ein ausgesprochen großzügiger Gastgeber. Außerdem bot sich für Sverre dort die Gelegenheit, seine Englischkenntnisse, die er sonst nur durch die wenigen amerikanischen Lehrbücher trainierte, kostenlos zu verbessern. Aber Englisch lesen war wesentlich einfacher als Englisch sprechen oder verstehen.
    Erstaunlicherweise sprach Albie im Unterschied zu seinen Landsleuten kein Sächsisch, sondern ein schönes, perfektes Hochdeutsch. Er bestätigte, dass man ihn überall in Deutschland für einen Deutschen hielt, erläuterte aber nie, wie er diese Fähigkeit erworben hatte, und leugnete, deutsches Blut in den Adern zu haben.
    Albies hervorragendes Deutsch kam noch mehr zu seinem Recht, wenn die anderen Gäste nach Hause geschwankt und sie allein waren, was immer öfter geschah. Manchmal brachen die anderen Gäste erstaunlich früh auf, als hätten sie einen kleinen Wink erhalten.
    Sie blieben im Hinblick auf die Vorlesungen des fol­genden Tages viel zu lange auf und unterhielten sich buchstäblich über alles zwischen Himmel und Erde, über Norwegen und England, über Bach und Mozart, über den Durchbruch des Impressionismus, Wagners Wikingerromantik im Verhältnis zur bedeutend raueren Wirklichkeit jener Zeit, über Sozialismus und Frauenwahlrecht, über Deutschlands zögerliche Teilnahme am Wettstreit um die Kolonien, die vielleicht allzu übertriebenen Bestrebungen Englands in dieser Hinsicht und die holländische Hell­dunkelmalerei im Vergleich zu den helleren Farben der modernen französischen Malerei. Wer hätte nicht gerne einen Vermeer besitzen wollen, wenn man bedachte, wie viele moderne französische Kunstwerke plus einer Kopie des alten Meisters man dafür eintauschen konnte.
    In diesen einsamen Stunden war die Welt schmerzlich schön, so schön wie gewisse Abschnitte in Tschaikowskys Sinfonie »Pathétique«. Während endloser Gespräche verglichen sie Bachs mathematische und Tschaikowskys emotionale Methode, schöne Kunst zu schaffen.
    Zusammen mit Albie wurde das Leben größer und reicher. Dieses Gefühl überwältigte Sverre ganz besonders, wenn er daran dachte, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er als Seiler in Bergen geblieben wäre und ihm somit der Blick auf die Welt großenteils verschlossen geblieben wäre. Manchmal hatte er das Gefühl von einem starken Überdruck in seinem Inneren, wie in einem allzu fest aufgepumpten Autoreifen, der zu platzen drohte. Anfangs war es eine Art fiebriger Erregung, die er nicht in Worte fassen konnte, weder sublime noch alltägliche. Er erkannte nicht die heimliche und in den Augen vieler schändliche Bedeutung dieser überwältigenden Gefühle.
    Nachdem ihn Albie zum ersten Mal zum Abschied geküsst hatte, behutsam und zärtlich, aber auf den Mund, ging er wie berauscht im roten Licht des Sonnenaufgangs am Elbufer nach Hause, ein absichtlicher Umweg. Er sang, was ihm gerade einfiel, hauptsächlich Schubert. Seine Gefühle waren stärker als jede Vernunft. Er ahnte nicht und dachte nicht, dass er an einem entscheidenden Wendepunkt im Leben angekommen war.
    *
    Albie wurde wie immer von einem schlechten Gewissen gequält. Zu viele Dinge hatte er Sverre verschwiegen. Nicht einmal andeutungsweise hatte
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