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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Prolog
    An dem Tag im Jahre 1909 , als die zwölfjährige Sarah Walker ermordet wurde, tobte über den westlichen Ebenen von New South Wales ein Gewitter, das sich über dem winzigen Städtchen Flint entlud. Der Mord an Sarah bildete das warme, reglose Herz der tagelangen fiebrigen Aktivitäten, in deren Verlauf jeder Einzelne der etwa zweihundert Einwohner Chaos und Verlust erlebte. Bäume duckten sich im Wind und knickten um, Pferde gingen durch. Auf der Flucht vor dem steigenden Wasser des Flusses drangen Schlangen ins Haus der Familie Porteous ein und zwangen Mrs. Porteous und ihre beiden kleinen Töchter, mehrere Stunden mit über die Knie hochgezogenen Kleidern auf dem Küchentisch zu stehen, bis der Hausherr von der Arbeit zurückkam und alle drei rettete. Jack Sully, der Schmied, brach sich den Arm bei dem Versuch, sein Dach zu sichern, doch begründeten Gerüchten zufolge war er dabei betrunken. Tagelang trieben aufgedunsene Kuhkadaver in den Fluten. Und die alte Mrs. Mabel Crink verlor das Augenlicht, was zum Teil den Namen erklärt, unter dem dieser Wirbelsturm bekannt wurde: der Blender.
    Sarahs Vater, Nathaniel Walker, sagte, er habe die ganze Gegend nach Sarah und ihrem älteren Bruder Quinn durchkämmt, die beide fast den ganzen Nachmittag von niemandem gesehen worden waren. Er habe in ihren üblichen Verstecken nachgeschaut: hinter dem Hühnerstall, unterm Haus, in dem ausgehöhlten Eukalyptusbaum am östlichen Rand ihres Grundstücks. Nichts. Schließlich fand er sie auf Wilson’s Point in dem verlassenen Schuppen am See, drei Kilometer von zu Hause entfernt. Doch inzwischen war es natürlich zu spät. Das Ganze verschlug Nathaniel die Sprache. Der Junge appellierte an seinen Vater, doch seine Worte wurden vom Donnergrollen übertönt. Im selben Augenblick tauchte Nathaniels Schwager Robert Dalton schnaufend neben Nathaniel auf und fragte: »Großer Gott, was ist hier passiert?«, obwohl – angesichts des Blutes an Sarahs Schenkeln, ihrer zerzausten Kleidung, des Messers in Quinns Faust und der blau gefärbten Lippen seiner Schwester – sogar Blind Freddy erkannt hätte, was sich zugetragen hatte. Der kleine Quinn warf das Messer weg, kletterte durch ein Loch in der Schuppenwand und verschwand in der stürmischen Dunkelheit. All das vollzog sich so schnell, dass Nathaniel und Robert zu fassungslos waren, um die Verfolgung aufzunehmen. Und so konnte sich der Junge ungehindert davonmachen.
    Mary, Sarahs und Quinns Mutter, saß zu Hause am Bett ihres ältesten Sohnes William, der Fieber hatte, und las ihm etwas vor. Das Regenwasser sprudelte über die Dachrinne, und es donnerte heftig. Ihr Haus war solide gebaut und stabil, doch sie hatte Angst um ihre Familie, und auch viele Jahre später konnte sie sich noch erinnern, wie sie mitten auf der Seite innegehalten und in einem Anflug von Furcht aufgeblickt hatte. Dieses Gefühl kannte sie von damals, 1890, als sie ein Kind verloren hatte, das, noch nicht voll entwickelt, drei Monate zu früh zwischen ihren Beinen hervorgeglitten war. Komm rein, Huck, aber guck dir nicht sein Gesicht an – ’s is’ zu schaurig . Mary schloss behutsam das Buch, als wollte sie den dösenden William nicht stören.
    Sie war eine fromme Frau, die zum Aberglauben neigte, und den Rest des dunklen Nachmittags wurde sie das Gefühl nicht los, es sei etwas Verhängnisvolles passiert, sodass sie sich, als Nathaniel abends triefnass und weinend nach Hause kam, die entsetzliche Nachricht mit resigniertem Gleichmut anhörte. Von den genauen Einzelheiten wollte sie nichts wissen und sagte, es genüge, dass es passiert sei, es genüge, dass so was überhaupt passiert sei.
    Natürlich war das ganze Städtchen in Aufruhr, und überall, wo sich Menschen versammelten, wurden Vermutungen angestellt über die näheren Umstände des schrecklichen Verbrechens – soweit sie bekannt waren oder man sie sich zusammengereimt hatte: in der Bar des Mail Hotel, im Geschepper der Küchen, auf Verandas, hinter Sullys Werkstatt, wo sich die Männer zum Rauchen drängten, an windigen, winterlichen Straßenecken. Ein Reporter der Sydney Sun mit dem seltsamen Namen Mr. Philby Rochester traf in Flint ein und begab sich sofort ins Mail, wo er Informationen sammelte, die dem staunenden Ergötzen seiner städtischen Leser dienen sollten. Schon seit vielen Jahren hatte der Ort nichts derart Dramatisches mehr erlebt, jedenfalls nicht, seit der Goldrausch ins Stocken gekommen war, und auf den öffentlichen
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