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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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Plätzen herrschte die schuldbewusste Atmosphäre sündhafter Erregung.
    Da die Familie Walker trauerte, übernahm Robert Dalton die Rolle des inoffiziellen Chronisten der Ereignisse. Er erzählte dem Reporter und allen im Mail, die es hören wollten, er habe schon immer gewusst, dass sich zwischen den beiden Geschwistern ein Unheil zusammenbraue, und hätte das schreckliche Verbrechen verhindern können, wenn er oder der Vater des Jungen früher am Tatort gewesen wären. »Nur ein paar Minuten«, sagte er dann und betonte die tragisch kurze Zeitspanne, indem er Daumen und Zeigefinger ein winziges Stück auseinanderspreizte. »Wenn der Junge sich hier noch mal blicken lässt, knüpf ich ihn am nächsten Baum auf.«
    Er behauptete, Quinn sei ihm schon immer sonderbar vorgekommen, ein Gefühl, das auch Nathaniel, der Vater des Jungen, geteilt habe, zu seinem ewigen Leidwesen, jetzt, da es zu spät sei, etwas zu unternehmen. Er habe versucht, die beiden auseinanderzuhalten, aber sie hätten aneinandergeklebt wie verdammte Kletten an einer Socke.
    Die traurige Berühmtheit des Ortes war nur von kurzer Dauer. Am dritten Tag nach dem Mord wurde der Reporter Mr. Rochester sturzbetrunken in den Flats, einer Gegend am Fluss, gefunden und kurzerhand in eine Kutsche nach Bathurst gesetzt, das etwa fünfzig Kilometer entfernt lag. Trotz aller Anstrengungen konnten die Polizei und der örtliche Fährtensucher Jim Gracie Quinn Walker nicht aufspüren, da der heftige Regen alle Spuren des Mörders weggespült hatte. Ein paar Tage später wurde Sarah in der vom Regen noch immer durchnässten Erde begraben.
    Obwohl man die Polizei in Victoria und Queensland verständigte und eine Belohnung von zweihundert Pfund aussetzte, wurde Quinn nie gefunden. Man ging allgemein davon aus, dass den sechzehnjährigen Flüchtling ein Schicksal ereilt hatte, das dem der Welt innewohnenden Sinn für Gerechtigkeit Genüge tat. Eine Weile erfreuten sich die Theorien großer Beliebtheit, dass ihn im Umland umherstreifende Wildhunde gefressen hätten, er in den Schacht eines stillgelegten Bergwerks gestürzt oder den Speeren der Eingeborenen zum Opfer gefallen sei.
    Die Einwohner von Flint erzählten sich Geschichten über das grausige Verbrechen, besonders an stürmischen Nachmittagen, an denen sich die Männer veranlasst sahen, zu ihren Frauen Sätze zu sagen wie: »Schrecklicher Tag. Erinnert mich an den Mord an dem Walker-Mädchen.« Woraufhin die Ehefrau des Mannes beim Teigausrollen oder Hühnerrupfen innehielt, schwermütig in die Luft starrte und den Kopf schüttelte. »Diese arme, arme Frau. So einen Sohn zu haben.«
    Jahre später, 1916 , erhielt Mary Walker von einem Offizier der australischen Freiwilligenarmee in Frankreich ein Telegramm, in dem er bedauerte, ihr mitteilen zu müssen, dass ihr Sohn Quinn verschollen und mutmaßlich gefallen sei, doch er sei ein äußerst tapferer Mann gewesen usw. usw. Anscheinend war der Junge vor Jahren also doch entwischt, nur um irgendwo fern von zu Hause zu sterben. Als Nathaniel die Neuigkeiten erfuhr, machte er drei Kreuze und ging weiter seinen Geschäften nach. Doch Mary vergoss wieder viele Tränen.
    Im Lauf der Jahre frönten die Stadtbewohner ihrer menschlichen Neigung, aus Einzelteilen etwas zusammenzufügen. Sie erschufen eine Geschichte, wie man eine Decke oder einen Quilt anfertigt – hier ein Gerücht, da eine Vermutung –, bis die Erzählung von Sarah Walkers Vergewaltigung und Ermordung historisch wurde, komplett mit Anfang, Mittelteil und Ende.

ERSTER TEIL
    Der Ruf
des Meeres

1 Das Truppentransportschiff Argyllshire pflügte durchs Meer. Sergeant Quinn Walker lehnte an einer der abgegriffenen Relings, die sich das Deck entlangzogen. Er lauschte dem endlosen Rauschen der Wellen und betrachtete das funkelnde Spiel des Sonnenlichts auf dem Wasser. Zwischen seinen Fingern, deren Spitzen so gelb waren wie elfenbeinerne Klaviertasten, brannte eine Zigarette bis zum durchnässten Stummel herunter. Nicht nur sein Haar war inzwischen stellenweise grau, sondern auch seine Augen, als würde die Asche der verstreichenden Jahre durch seine Eingeweide sickern und sogar seine Leber und sein Herz in Ruß verwandeln. Obwohl er erst sechsundzwanzig war, war er auf unvorhergesehene Art erwachsen geworden. Er ähnelte nicht mehr dem Jungen, der er einmal gewesen war, sondern war zurückhaltend geworden, sich der Drehung der Welt bewusst, ein Mann ständig auf dem Sprung.
    Ein Schwarm Delfine schlängelte
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