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Die Brueder

Die Brueder

Titel: Die Brueder
Autoren: Jan Guillou
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unermüdlicher Fleiß, obwohl er oft vom Training erschöpft gewesen war. Nichts vermochte Lauritz aufzuhalten.
    Diese Eigenschaften konnten selbst einen Bruder ein wenig einschüchtern. Lauritz würde sich nie von so etwas Weltlichem und Trivialem wie der Liebe davon abhalten lassen, zu erledigen, was seine Ehre ihm abverlangte. Daher war nie infrage gestellt worden, dass sie alle drei nach Bergen zurückkehren und anschließend für einen Lohn, der kaum höher war als der eines Bahnarbeiters, in Schnee und Eis auf der Hochebene arbeiten würden, fünf Jahre lang, genauso lang wie die Studienzeit.
    Anschließend, wenn sie alle über dreißig waren, eröffneten sich ganz sicher neue Möglichkeiten. Wie oft hatten sie nicht über die neue Ingenieursfirma Lauritzen & Lauritzen & Lauritzen in Bergen gescherzt! Mit vierzig würden sie dann mit Frau und Kindern in einer schönen Villa in Bergen ein respektables, bürgerliches Glück leben. Das war der Plan, den nichts durchkreuzen durfte. Am allerwenigsten Gefühlsduseleien. Für Lauritz waren starke Emotionen ein Ausdruck von Unmännlichkeit.
    Diesem unerbittlich harten und prinzipientreuen Lauritz erklären zu wollen, dass es Gefühle gab, die alle Prinzipien über den Haufen warfen, noch dazu Gefühle, die in den Augen Gottes einen Frevel darstellten, wäre vollkommen unmöglich gewesen. Lauritz glaubte zu allem Überfluss nämlich auch noch an Gott. Er hätte sich nur ange­ekelt abgewandt. Es hätte einen fürchterlichen Abschied gegeben. Daher war es sinnvoll gewesen, feige und prin­zipienlos die Flucht zu ergreifen.
    Seltsam, wie sehr die Brüder sich ähnelten und zugleich unterschieden. Für niemanden in Dresden hatte je irgendein Zweifel bestanden. Da kommen die drei norwegischen Wikingerbrüder, hatte man gesagt. Sie waren ungefähr gleich groß, hatten dieselben breiten Schultern und dasselbe rotblonde Haar. In den ersten Jahren hatten sie sogar denselben Schnurrbart getragen, bis Sverre aus politischen Gründen dazu übergegangen war, glatt rasiert aufzutreten.
    Äußerlich so gleich und innerlich doch so verschieden. Die beiden älteren Brüder interessierten sich keinen Deut für Kunst und Musik, für Sverre waren sie lebensnotwendig. Er sah die Schönheit in einer guten Skizze, einem kühnen Brückenschlag über einem Abgrund auf der Hardangervidda oder einer eleganten Gleichung. Lauritz und Oscar hingegen konnten einen Gustave Doré, obwohl ihnen das Motiv hätte vertraut sein müssen, nicht von einem Claude Monet unterscheiden, und die einzige Musik, die sie möglicherweise interessierte, war Blasmusik an einem Sonntagnachmittag im Park.
    Es gab keinen Grund, die Brüder ihres Geschmackes wegen, den sie trotz allem mit den meisten anderen Menschen teilten, zu kritisieren. Sverre hatte eine besondere Gabe, seine Brüder hingegen nicht. So musste man es betrachten. Aber seltsam war es schon, dass sie sich trotz der garantiert gleichen Eltern, der gleichen Kindheit und Jugend und der symbiotischen Studienjahre so unterschiedlich entwickelt hatten. Lauritz nutzte jede freie Minute, um wie besessen Rennrad zu fahren. Oscars einziges Steckenpferd war sein Gewehr, und jeden Sonntag nahm er an Übungen der Dresdner Scharfschützenkompanie teil. Man hätte meinen können, diese Beschäftigung wäre ihm mit der Zeit vielleicht etwas eintönig geworden, aber mitnichten. Leichter nachzuvollziehen war sein diskretes Faible für das Nachtleben.
    Sie hatten sich jedoch bislang immer geliebt, wie sich Brüder eben lieben. Bis vor Kurzem, bis zum Verrat des jüngsten Bruders.
    Nun rackerten sich Lauritz und Oscar auf der Hardangervidda ab. Man konnte sich unschwer vorstellen, wie es ihnen dort erging, vielleicht war es ja jetzt im Juni nicht ganz so schrecklich. Einmal hatten sie während der Sommerferien nach der Heuernte zu dritt die Osterøya verlassen und waren eine Woche lang auf der Hardangervidda gewandert, um sich ein Bild davon zu machen, was sie erwartete, wenn sie den Bau des am höchsten gelegenen und schwierigsten Eisenbahnabschnitts nach Beendigung ihrer Ausbildung in Dresden in Angriff nehmen würden. Zur Sommerzeit präsentierte sich die Hardangervidda magisch schön in ungeahnter Farbenpracht. Sverre hatte vor Ort eine Reihe Bilder gemacht, sogar einige Aquarelle. Es ­gehörte nicht viel Fantasie dazu, eine weiße, wirbelnde Schnee­decke über die ganze Landschaft zu ziehen und sich eine Temperatur von minus 35 Grad vorzustellen. Die Schönheit
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