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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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paar Lieferwagen. Max kam. Er umarmte uns alle, weil sein Boot standgehalten hatte. Dann wartete er neben einer Gruppe von Männern auf die verlorene Fracht, die Hände in den Taschen, der Körper etwas verloren in der großen blauen Leinenjacke.
    Die Männer sprachen miteinander, ohne das Meer aus den Augen zu lassen. Ich starrte in die Richtung, in die sie blickten. Das Licht tat meinen Augen weh. Früher lebte ich im Süden. Dort gab es zu viel Licht. Meine Augen sind zu blau. Meine Haut zu weiß. Ich verbrannte sogar im Winter.
    Ich verbrenne immer noch. Man brennt immer. Jeder auf seine Art.
     
    Sie kamen zu Dutzenden, Bretter wie Körper. Helle Schatten auf den fast schwarzen Wellen, und die Schatten schwankten. Getragen. Alle bewegten sich zu den Männern hin. Die alte Nan ging näher ans Wasser. Sie sah aufs Meer, in die Täler zwischen den Wellen. Sie kümmerte sich nicht um die Bretter.
    Die Männer sprachen nicht mehr. Oder nur sehr wenig. Ein paar Worte, um das Wichtigste zu sagen. Es waren kaum Frauen dabei. Wenige Kinder.
    Auch die Polizei war vor Ort, sie notierte Namen, Autokennzeichen.

    Das Frachtschiff hatte die Anker ausgeworfen, man sah es weit draußen, genau dort, wo sich seine Ladung losgemacht hatte. Ein Polizeischnellboot war von Cherbourg gekommen. Lambert stand am Hafen. Allein, etwas abseits, in seiner Lederjacke. Ich fragte mich, was er dort tat, und richtete das Fernglas auf sein Gesicht. Der kantige Kiefer, schlecht rasiert. Die dicke Haut von ein paar tiefen Falten durchzogen. Die Hose zerknittert. Schwer zu sagen, ob er bei der Irin oder in seinem Auto geschlafen hatte.
    Am Strand machten sich die Männer weiter bei den angespülten Brettern zu schaffen. Der Geruch nach Schlamm mischte sich mit dem der Menschen und mit dem scharf riechenden Schweiß eines Pferdes.
    Ich folgte den Männern.
    Ein Auto fuhr auf uns zu. Einen Moment lang standen wir alle im gelben Licht der Scheinwerfer. Lambert trat näher, das Gesicht vom Lichtkegel erhellt. Dann entfernte sich das Auto, und sein Gesicht wurde von der Dunkelheit verschluckt.
    Ich hörte ihn sagen: »So muss das Ende der Welt sein.« Vielleicht wegen des Lärms und dieser Männer fast im Meer.
    »So, ja … Nur schlimmer«, antwortete ich.
    Die alte Nan hatte sich von den Brettern abgewandt. Sie ging von einem Mann zum anderen, sah forschend in jedes Gesicht. Selbst in die Gesichter der Kinder, die sie mit gierigem, verzweifelten Blick zwischen den Händen hielt und die sie gleich wieder zurückstieß, um sich einem anderen zuzuwenden – sogar dem Gesicht von Max. Die Kinder ließen es geschehen, man hatte es ihnen erklärt. Ihr braucht keine Angst zu haben, sie sucht jemanden. Die meisten hier hatten Angst vor ihr. Und auch wer keine Angst hatte, ging ihr aus dem Weg.
    Der Saum ihres Kleides war durchs Wasser geschleift, jetzt streifte er durch den Sand. Als sie Lambert sah, vergaß sie alle
anderen. Sie krallte ihre Hand in den schweren Stoff des Kleides und ging auf ihn zu, bis sie vor ihm stand. Sie sah ihn an, ihre Augen plötzlich verstört unter der weißen Mähne. Mit der Hand berührte sie sein Gesicht, blitzschnell, er hatte keine Zeit zurückzuweichen. Sie hatte Warzen an den Händen. Sie hätte sie verätzen können, es gibt tausend Arten, allen hier sind sie bekannt, Äpfel, Spucke, Pisse … Ich glaube, sie hatte sich an ihre Warzen gewöhnt. Manchmal streichelte sie sie. Ich hatte sie schon daran lecken sehen.
    Lambert schubste sie weg.
    »Die Fische essen die Augen«, sagte sie mit ihrer Grabesstimme und legte den Kopf zur Seite.
    »In Mondnächten steigt das Blut an die Oberfläche. Man hört die Schreie …«
    Sie lächelte seltsam. Schließlich wandte sie sich von ihm ab, wie zuvor bei den anderen, kehrte aber wieder zurück, mehr verwirrt als verrückt. Erneut erforschte sie sein Gesicht ganz genau, die Stirn, die Augen …
    Sie öffnete den Mund.
    »Michel …«
    Ihr Lächeln war ebenso kurz wie wild.
    »Du bist zurückgekommen …«
    Ringsum arbeiteten die Männer unbeeindruckt weiter.
    »Ich heiße Lambert.«
    Wieder dieses schreckliche Lächeln, sie schüttelte den Kopf, mehrmals, mit heftigen Bewegungen.
    »Du bist Michel …«
    Sie wiederholte es, zwischen den kreidigen Falten ihrer Lippen.
    Normalerweise klammerte sie sich an ein Gesicht und ging zum nächsten weiter. Bei Lambert aber war es anders, sie hatte Lust, ihn zu berühren, es war wie ein Zwang. Sie fuhr ihm
immer wieder über die Wange –
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