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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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wenn man von herumfliegenden Blechen getroffen wird.
    Bleche, Rost.
    Er hatte von Städten gesprochen, davon, dass man dort keine Sterne mehr sieht.
    Ich desinfizierte die Wunde mit etwas Alkohol und blieb am Fenster stehen. Meine nackten Füße auf den Dielen. Der Abdruck meiner Finger auf der Scheibe. Mein Zimmer mit Blick aufs Meer. Ein großes Bett mit Federdecke. Zwei abgenutzte Sessel. Auf dem Tisch die Kiste mit meinem Fernglas, meiner Stoppuhr und den Büchern über Vögel. Detaillierte Karten mit Fotokopien und Listen. Unten in der Kiste eine Handvoll Stifte. Ein Logbuch.
    Sechs Monate führte ich dieses Buch schon. Ich wusste nicht, wie lange ich noch hierbleiben würde.
    Früher war ich Biologiedozentin an der Universität in Avignon gewesen. Ich hatte Ornithologie gelehrt und mit meinen Studenten Vögel in der Camargue beobachtet. Ganze Nächte hatten wir dort in Pfahlhütten verbracht.
    Nach dir habe ich mich zwei Jahre beurlauben lassen. Ich dachte, ich würde es nicht überleben. Und ich kam hierher.
    Mein Vormieter war eines Morgens einfach verschwunden. Vermutlich hatte er die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Er hinterließ Essen in den Schränken, Pakete mit Zwieback. Zucker in
einer Dose. Auch Milchpulver und Kaffee in kleinen braunen Packungen aus Papier, auf das ein grüner Baum gedruckt war: Fairer Handel .
    Bücher. Ein altes Radio. Ein Fernseher, ohne Bild, nur Ton.
    Zwei Flaschen unter der Spüle. Untrinkbarer Wein, Plastikgeschmack. Ich habe ihn trotzdem getrunken, allein, an einem Tag bei schönem Wetter.
     
    Ich lief von einem Fenster zum anderen. Noch nie hatte ich einen so schwarzen Himmel gesehen. Landeinwärts, über dem Hügel, türmten sich die Wolken zu einer Bleikappe. Die Boote schaukelten. Lambert saß nicht mehr auf der Terrasse, er stand am Kai. Die Jacke geschlossen, die Hände in den Taschen, ging er auf und ab.
    Noch regnete es nicht, aber die Wolken hatten sich zusammengeballt, bildeten eine bedrohliche, von Blitzen durchzuckte Wand über dem Meer, die allmählich näher kam. Der Donner begann zu grollen. Lambert lief ein paar Schritte in Richtung Mole, aber der Wind war zu stark, er kam nicht voran. Ich nahm mein Fernglas zur Hand und richtete es auf sein Gesicht. Tropfen peitschten ihm über die Wangen.
    Er blieb minutenlang stehen, dann blitzte es, und der Regen stürzte herab.
    Am Hafen stand nur ein Auto, seins. Keine Menschenseele, nur wir drei in der Griffue .
    Wir drei, und er draußen.
    Er stand im Regen.
    Eine erste Welle spritzte über die Mole. Andere folgten. Und gleichzeitig setzte Höllenlärm ein. Ein Vogel, wohl von der Wucht des Windes überrascht, prallte gegen mein Fenster. Es war eine große Silbermöwe. Sie blieb ein paar Sekunden mit erstauntem
Blick kleben, dann ergriff der Wind sie wieder, riss sie weg und trug sie fort.
    Das Gewitter explodierte. Die Brandung schlug gegen das Haus. Ich drückte das Gesicht ans Fenster und versuchte hinauszusehen. Die Laternen waren erloschen, es war stockfinster. Im Leuchten der Blitze schienen die Felsen, die den Leuchtturm umgaben, zu bersten. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
    Als ich zum Hafen schaute, sah ich, dass Lamberts Auto nicht mehr dastand. Es fuhr in Richtung Dorf. Die Rücklichter entfernten sich. Und dann nichts mehr.

E s dauerte Stunden, eine wahre Sintflut. Bis man nicht mehr sagen konnte, wo Land war und wo Wasser. Die Griffue schwankte. Ich wusste nicht mehr, ob der Regen gegen die Scheiben peitschte oder ob die Wogen so hoch schlugen. Mir wurde schlecht. Also blieb ich einfach stehen, die Wimpern an der Scheibe; mein Atem war heiß, ich hielt mich an den Wänden fest.
    Unter der Gewalt des Sturms schlangen sich die schwarzen Wellen wie Leiber ineinander. Es waren schwer beladene Wasserwände, die vorwärtsgepeitscht wurden, ich sah sie kommen, mit Angst im Bauch, Wände, die an die Felsen prallten und unter meinem Fenster zusammenstürzten.
    Diese Wellen, diese Brandung.
    Ich fand sie großartig.
    Sie machten mir Angst.
    Es war stockdunkel. Mehrmals dachte ich, der Wind werde das Dach abreißen. Ich hörte die Balken knacken.
    Ich zündete Kerzen an. Sie zerschmolzen, weißes Wachs floss auf das Holz des Tisches. Ein seltsamer heißer Film. Im Licht eines Blitzes sah ich den Kai, der völlig überschwemmt war, als sei das Meer über das Land getreten und habe alles verschlungen. Es hörte nicht auf zu blitzen. Blitze wie Eisenstangen. Raphaël war in seinem Atelier, dem großen Raum direkt
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