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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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unter
meinem Zimmer. Ein Holzboden trennte uns. Ich hörte ihn, und ich konnte ihn auch sehen, ich musste mich nur auf den Boden legen und mein Auge gegen einen kleinen, nur ein paar Millimeter breiten Spalt zwischen den Dielen unter dem Teppich pressen.
    Alle sagten, es sei unmöglich, hier zu leben, so nah am Meer. So nah, dass man dachte, man sei drin.
    War es Tag? Nacht? Ich versuchte zu schlafen, doch es war zu warm unter der Decke. Zu kalt ohne. Ich schloss die Augen, sah das Blech vor mir. Seinen Schatten. Ich hörte Lamberts in die Dunkelheit getauchte Stimme, das unangenehme Schaben des Blechs. Das Ticken der Uhr an meinem Handgelenk, alles vermischte sich. Ich wachte auf, schwitzend.
    Das Ofenrohr führte durch mein Zimmer, es wärmte die Luft und ging durchs Dach nach draußen. Das Rohr war aus Weißblech. Die Hitze ließ es vibrieren.
    Raphaël lief umher, ich hörte seine Schritte wie die eines Raubtiers in seinem Käfig, er hatte wohl Angst um seine Skulpturen. Nichts als Gips und Lehm. Er sagte, es müsse nur eine Scheibe zerspringen, und alles sei hin.
    Seinen Ofen stopfte er mit Holzscheiten voll, als könnte das Feuer das Meer zurückweichen lassen.
    Ich hörte, wie er brüllte:
    »Das Haus hat gehalten, es wird weiter halten!«
    Ich drückte mein Gesicht an die Spalte. Er hatte die großen Kerzen angezündet. Mit den Statuen wirkte sein Atelier wie eine Kirche.
    Dann sah ich mir meine Verletzung im Licht einer Kerze an. Die Wunde war dunkel geworden, beinah violett. Ich wärmte meine Handfläche an der Kerzenflamme, legte sie an die Wunde.
    Ich steckte Streichhölzer ins Wachs und starrte weiter auf den rostigen Fensterrahmen. Am Ende erinnerte die Kerze an eine Voodoo-Puppe.

     
    Die Leute hier nennen mich La Griffue , sie nennen mich auch La Horsaine , die Zugereiste, die, die nicht hier geboren ist. Alle, die hier vor mir gewohnt haben, bezeichneten sie so. Auch diejenigen, die nach mir kommen, werden sie so rufen. Und jemand wird kommen.
    Raphaël nennt mich Prinzessin.
    Für Lili bin ich Miss.
    Für dich war ich die Düstere . Du sagtest, es sei wegen meiner Augen und wegen all dem, was sie bedrücke.
    Seit Monaten bin ich ohne dich. Dein Fehlen besetzt alles. Es verschlingt sogar die Zeit. Sogar dein Bild.
     
    Mit dem Morgen enthüllte das Tageslicht eine tote Heide. Noch immer regnete es, und der Wind pfiff. Er glitt über die Wasserfläche, riss lange Fetzen von fettem Schaum los und warf sie woanders wieder ab. Traurige Pakete. Im Hafen kämpften die Boote, um nicht zu sinken.
    Ein Auto kam vom Dorf herunter und blieb dann stehen. Es machte kehrt, ehe es den Kai erreicht hatte.
    Der Wind drehte, es war jener Augenblick der Stille, in der das Meer die Wellen hochhebt und wieder mit zurücknimmt.
    Ich schlief, um ein paar Stunden von den langen schlaflosen Nächten nachzuholen. Vergangenen Nächten. Kommenden Nächten.
    Später trank ich Kaffee, wühlte im Schrank in einem Stapel von Paris Match -Zeitschriften, alte Nummern, darunter die Hochzeit von Grace Kelly und der Tod von Jacques Brel. Schwarz-Weiß-Fotos. Alte Zeitungen. Ich förderte Staub zutage, Fetzen von Papier, das die Ratten angenagt hatten. Ein Vogelskelett. In einer Zeitschrift fand ich ein Foto von Demi Moore. Ich legte es beiseite, um es Raphaël zu geben.
    Ich entdeckte eine Biographie über Teresa von Ávila und das
Tagebuch von Etty Hillesum. Eine Postkarte von Hopper zwischen den Seiten eines Buches, ein Mädchen an einem Tisch in einem Café. Die Wände grün gestrichen. Ich legte das Buch zurück und behielt die Karte.
    Dann ging ich in den Flur. Die Nordwand war feucht. Entlang der Scheuerleisten und auf den Stufen sickerte Wasser ein. Die weißen Spuren an den Wänden kamen vom Salz.
    Rechts befand sich der Lichtschalter. Die Wand bröckelte. Die Tapete hielt nicht. Sie löste sich in großen Bahnen, die wie Vorhänge herabhingen. Andere Türen führten zu leeren Zimmern. Ein altes Telefon mit grauer Wählscheibe war am unteren Ende der Treppe an der Wand befestigt – schon lange außer Betrieb. Wenn wir telefonieren mussten, benutzten wir die Zelle am Kai, dazu brauchte man eine Karte. Sonst konnte man auch zu Lili gehen oder zum Gasthof am Hafen.
    Raphaël sagte, im Notfall müsste man auf die Knie fallen und beten. Darüber konnte er lachen.
    In der Diele hing eine ganze Reihe hölzerner Briefkästen. Auf einem stand Raphaëls Name: R. Delmate, Bildhauer. Es gab noch andere Namen, aufgeklebte, halb abgelöste
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