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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle
Autoren: Claudie Gallay
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für einen Moment war ihr Lächeln beinahe friedlich.
    Es war zum Schaudern, ihre Hand auf seinem Gesicht zu sehen, diese sicherlich kalte Berührung einer unbekannten Haut.
    Lambert stieß sie weg, zu brutal, die Männer drehten sich nach ihm um. Nan sagte nichts, sie nickte, als gehe es um ein Geheimnis zwischen ihnen beiden, und wandte sich schließlich ab.
    Ihr zerknittertes Kleid, der Saum nass und voller Sand.
    Lambert schämte sich seines Verhaltens und auch, weil die Männer stehen geblieben waren und leise miteinander sprachen.
    Nan ging fort, die Zipfel ihres großen Tuchs um die Schultern zusammengezogen. Sie lief ans Wasser, blieb stehen und drehte sich dann um. Es kam mir so vor, als lächelte sie noch immer.
    »Manchmal ist sie so«, sagte ich zu ihm.
    »Wie, so?«
    »Ein bisschen verrückt.«
    Lambert ließ sie nicht aus den Augen.
    »Ihre ganze Familie ist im Meer ertrunken, ein Bootsunglück, am Tag einer Hochzeit. Sie war sieben Jahre alt. Bei Sturm glaubt sie, jedes unbekannte Gesicht sei ein vom Meer Zurückgegebener.«
    Er nickte.
    Er sah immer noch zu Nan.
    »Ich glaube, ich kenne ihre Geschichte …«
    Er sah mich an.
    »Ich war damals in den Ferien hier, das ist sehr lange her … Erzählen Sie mir mehr darüber.«
    »Die beiden Familien sind in ein Boot gestiegen, um eine Fahrt aufs Meer zu unternehmen. Das Wetter war schön. Nan war zu klein, um sie zu begleiten. Als das Boot zu schaukeln begann,
dachten die Spaziergänger am Ufer, es sei nur Spaß. Plötzlich fiel eine Frau ins Wasser, dann eine zweite. Dabei kannten sie alle das Meer so gut. Das Boot ist schließlich untergegangen. Nan hat am Hafen gestanden, sie hat alles gesehen, alles gehört. Ihre Haare sind in einer Nacht weiß geworden.«
    »War nicht auch ein Hund an Bord?«
    »Ein Hund? Ja, da war einer.«
    »Meine Mutter hat mir die Geschichte erzählt.«
    Er sah aufs Meer hinaus.
    Ich beobachtete ihn. Sein Gesicht war wie vom Zufall gezeichnet, wie eine rasch hingeworfene Skizze.
    Unregelmäßige Züge in dicker Haut.
    »Es war ein kleiner Hund«, bemerkte ich. »Er ist bis zu einem Felsen geschwommen und hat sich an ihm festgeklammert … Man erzählt sich, dass der Körper des Bräutigams gefunden wurde. Der seiner Frau jedoch nicht. Andere sagen, es war genau andersrum.«
    Wir liefen ein paar Schritte am Ufer entlang. Er wollte das Ende der Geschichte hören. Ich erzählte ihm, dass sich der Hund so lange festgehalten hatte, wie er nur konnte, dass ihn das Meer aber schließlich mitgerissen habe.
    Er nickte wieder und sagte, dass er sich an das Glockenläuten erinnere.
    »Die Glocken läuten jedes Mal, wenn es Tote gibt.«
    Sein Gesichtsausdruck war sehr eigenartig, als er das sagte.
    »Das Meer hat sie alle verschluckt, wie es das Boot und den Hund verschluckt hat. Es hat Wochen gedauert, bis es den einen oder anderen wieder zurückgegeben hat. Manche Körper jedoch hat es behalten, es waren weder die schönsten noch die jüngsten.«
    Wir liefen weiter. Der Wind war kalt, feucht von der Gischt. Max kam dicht an uns vorbei. Er trug ein langes Brett mit sich.
Lambert blickte ihm lange nach, dann schaute er wieder zum Ufer, dorthin, wo Nan stand. Das Schwarz ihres Kleides verschmolz mit dem Schwarz des Meeres. Von weitem sah man nur ihr dichtes, langes weißes Haar.
    »Warum hat sie mich Michel genannt?«
    »Sie hat Sie verwechselt. Ein Onkel, ein Bruder, wer weiß.«
    Er nickte, blieb stehen und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche.
    »Kommen Sie von hier?«
    »Nein, aber diese Geschichte hört man schnell, man muss sich nur eine Weile hier aufhalten.«
    Er riss ein Streichholz zwischen den Fingern an und entzündete seine Zigarette.
    »Die weißen Haare, das kommt vom Melanin«, sagte er und atmete den ersten Zug aus. »Wenn man Angst hat, verschwindet mit dem Melanin die Farbe.«
    Ich nickte.
    Seine Haare wurden an den Schläfen grau, ich fragte mich, ob er Angst gehabt hatte.
     
    Mittags nahm ich wie üblich meinen Tisch am Aquarium ein. Hummerhüterin!, hatte der Wirt gesagt, als ich zum ersten Mal kam. Er hatte mir diesen Platz gegeben. Der Tisch für Einzelgänger. Nicht der beste, nicht der schlechteste. Mit Blick auf den Saal und auf den Hafen.
    Wegen des Sturms gab es kein Menü. Der Wirt hatte es ausgehängt: Heute Minimalservice .
    Er zeigte mir das Fleisch, Lammkoteletts, die auf dem Rost im Kamin brutzelten.
    Die Polizisten standen an der Bar.
    »Ein Schiffbruch ist für die Leute von hier wie eine
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